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Sie begegnen täglich der „Gospa"

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Über 20 Millionen Menschen besuchten bisher Medjugorje. Die Kirche wartet mit einem Urteil über die Erscheinungen ab.

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Über 20 Millionen Menschen besuchten bisher Medjugorje. Die Kirche wartet mit einem Urteil über die Erscheinungen ab.

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Wien, Westbahnhof: An einer Bushaltestelle stapeln sich die Bucksäcke einer ungewöhnlichen Beisegruppe. Rund 80 Jugendliche steuern an dem heißen Sommertag weder die Cote dAzur noch die Costa Brava an. Ihr Ziel ist der Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien-Herzegowina, 20 Kilometer südwestlich von Mostar. Seit fünfzehn Jahren soll dort die „Gospa", wie die Muttergottes Maria auf kroatisch genannt wird, erscheinen. Die Strapazen der 20stündigen Busreise nimmt die Reisegruppe gerne auf sich. Vorbei an bombardierten Ruinenlandschaften beten sie den Rosenkranz für den Frieden auf der Welt. „Mich zieht es förmlich dorthin, wo ich die Nähe der Muttergottes so intensiv erfahren habe wie nie zuvor. In Medjugorje habe ich das Gefühl, als komme der Himmel mit der ganzen Schönheit auf die Erde", erzählt eine 22jährige Jus-Studentin.

Nützt Medjugorje der Kirche?

Über 20 Millionen Menschen aus aller Welt haben bereits diesen Ort in der Herzegowina besucht. An dem Phänomen scheiden sich die Geister. Während die einen die Botschaften der „Gospa" voll Enthusiasmus verbreiten, tun sie andere als Lug und Trug ab. Dann gibt es noch jene, die sie einfach ignorieren, weil sie der Ansicht sind, die Kirche könne daraus keinen Nutzen ziehen.

Von den Pilgern, die heute nach Medjugorje kommen, können nur wenige bei einer Erscheinung dabei sein. Unzählige Menschen warten daher jeden Tag vor dem kleinen Portal beim rechten Kirchturm. So auch an diesem Nachmittag. Das Gedränge ist kaum auszuhalten, als ein Franziskanerpater den Eingang öffnet. Über eine schmale Wendeltreppe gelangt man zur Empore. Sie ist nicht größer als in anderen Kirchen. An der Wand gegenüber der Tür, durch die die Pilger kommen, hängt ein einfaches Marienbild, unter dem zahlreiche Andachtsgegenstände liegen. Um 18 Uhr beginnt in dem überfüllten Gotteshaus das Rosenkranzgebet. Etwa 20 Minuten später kommt der 25jährige Jakov, in Jeans und mit blauem Polohemd gekleidet. Mühsam bahnt er sich den Weg durch die Menschenmenge. Er setzt sich vor das Marienbild und betet den Rosenkranz mit. Es ist genau 18.43 Uhr, als er plötzlich auf die Knie fällt und das

Kreuzzeichen macht. Sein Blick ist gespannt nach oben gerichtet, als ob er das Bild an der Wand betrachten würde. Er wirkt wie in Trance, nimmt die Umgebung nicht wahr und scheint jemanden aufmerksam zuzuhören. Er nickt einige Male, als ob er verstanden habe. Dann bewegt er leise seine Lippen. Nach einigen Minuten richtet er sich auf und betet wieder laut mit den anderen mit. Die Danebenstehenden konnten nur die Veränderung beobachten, die mit dem Seher während dieser Zeit vorgegangen ist.

Die erste Begegnung mit der „Gospa" hatte Jakov Ende Juni 1981 zusammen mit fünf anderen Jugendlichen auf einem Berg, einige Kilometer außerhalb von Medjugorje. Sie sahen eine 1,60 Meter große Gestalt. Diese schwebte über dem Boden, trug ein leuchtendes Kleid, über ihrem schwarzen Haar einen weißen Schleier und eine Sternenkrone. Das ungewöhnliche Ereignis hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Schon in den darauffolgenden Tagen eilten Zehntausende Pilger an den Ort. Den kommunistischen Behörden war das Geschehen ein Dorn im Auge, sahen sie doch darin eine Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung atheistischer Prägung. Der Bogen ihrer Reaktionen spannte sich von polizeilichen Maßnahmen bis zu Angriffen in der Presse. Doch die Jugendlichen ließen sich nicht beirren. Als die Polizei den Berg abriegelte, erschien die

„Gospa" zu Hause bei den Sehern oder in den Häusern ihrer Nachbarn, dann im Pfarramt und schließlich in der Pfarrkirche. 1985 erkannten die Behörden, daß sich mit dem Phänomen ein gutes Geschäft machen ließ. Der Bau von Hotels und Gaststätten wurde massiv gefördert.

Enormer wirtschaftlicher Boom

Der wirtschaftliche Aufschwung des kleinen Dorfes war einzigartig. Allein 1988 betrugen die Einnahmen aus dem Pilgerstrom rund 100 Millionen Dollar, fünf Prozent der Tourismus-Einnahmen von ganz Jugoslawien. Erst die jahrelangen Kämpfe in Bosnien, von denen Medjugorje selbst zwar verschont blieb, änderte die Situation. Zahlreiche halbfertige Gebäude, die dem Verfall preisgegeben sind, zeigen heute, daß der Krieg so manchen in die Pleite gebracht hat. Seit dem Friedensabkommen von Dayton kommen wieder mehr Pilger in den Ort. Sie werden von den Bewohnern begeistert empfangen. „Hoffentlich dauern die Erscheinungen noch lange an. Denn jetzt muß ich erst die Verluste des Krieges hereinbekommen", erzählt die Inhaberin einer Pizzeria.

Die aggressive Vermarktung löst bei den im Ort tätigen Franziskanern Widerwillen aus. Pater Slavko Barba-ric betont im Gespräch mit der furche, daß die Pfarre nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig profitiert habe. Der Glaube unter den Ein-

heimischen sei stärker und breiter geworden. Nicht wenige würden zweimal in der Woche bei Brot und Wasser fasten. „Die Erscheinungen haben die Erneuerungsdynamik der Gemeinde beflügelt und über den Ort hinaus Bekehrungsvorgänge ausgelöst", unterstreicht der Pater. Im Pfarrhaus sind zahlreiche physische und psychische Heilungen dokumentiert, die sich auf Fürsprache der „Gospa" ereignet haben sollen. „Medjugorje ist überall", so der Pater. In vielen Ländern wurden über Telefon abrufbare Tonbanddienste eingerichtet, in denen die neueste Botschaft der „Gospa" veröffentlicht wird. Im deutschsprachigen Raum informieren zahlreiche Zeitschriften und Publikationen unterschiedlichen Niveaus regelmäßig über die aktuellen Vorgänge. Von einem Büro in Wien werden Pilgerreisen organisiert. Allein in Österreich sind rund 2.000 Gebetskreise registriert, deren Teilnehmer ihr Leben nach den Mitteilungen der „Gospa" ausrichten.

Seit 1987 gibt sie ihre Botschaft nur mehr einmal im Monat, und zwar am 25., bekannt. Deren zentrales Thema ist die Bekehrung. „Friede, Friede, Friede! Versöhnt euch!", fordert die erscheinende Frau ununterbrochen auf. Bedroht sei der Friede wegen der Sünde in der Welt. Nur durch die Zuwendung zu Gott im Glauben, durch Gebet, regelmäßiges Fasten und monatliche Beichte könne die Wurzel des Unfriedens überwunden werden. Daneben vertraut die Gestalt den sechs Jugendlichen auch zehn Geheimnisse

über die Zukunft der Welt an. Die Seherin Mirjana berichtet von drei Warnungen, die bald eintreffen sollen. Danach soll es in Medjugorje ein sichtbares Zeichen für die ganze Menschheit als Aufruf zur Bekehrung geben.

Keine kirchlich organisierte Wallfahrten

Die vatikanische Glaubenskongregation ist mit einem Urteil über Medjugorje äußerst zurückhaltend. Angesichts von derzeit weltweit Hunderten angeblichen Marienerscheinungen, von gerade in Italien wellenartig auftretenden weinenden Madonnenfiguren und endzeitkündenden Botschaften ist dies verständlich. In den vergangenen Jahrzehnten hat der Vatikan nur sehr wenige Marienerscheinungen offiziell als übernatürlich anerkannt. Dabei wurde jeder Fall genauestens überprüft. Auf Anfrage eines französischen Bischofs erklärte die Glaubenskongregation vor kurzem, daß kirchlich organisierte Wallfahrten nach Medjugorje nicht zulässig seien, solange es keine offizielle Anerkennung gebe. Unter Hinweis auf eine Erklärung der Bischöfe aus dem früheren Jugoslawien von 1991 hieß es weiters: „Es läßt sich aufgrund der bisherigen Untersuchungen nicht bestätigen, daß es sich in Medjugorje um tatsächliche oder übernatürliche Offenbarungen handelt."

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