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Siegt Herodes?

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In immer hektischerer Hysterie gehen die Menschen auf das Weihnachtsfest zu. Mit Bangen überblik- ken viele ihre Bargeldbestände, die unter den ständigen Einkäufen von Weihnachtsgeschenken rasant dahinschmelzen. Mit Zittern erwarten die Kaufleute die Ergebnisse dieses Weihnachtsgeschäftes, das für viele von ihnen die Gelegenheit darstellt, aus den finanziellen Engpässen des Jahres auszubrechen. Wintersportorte erwarten den Ansturm der Reisenden, die die Weihnachtsfeiertage benützen, um ihre müden Knochen aufzufrischen. Weihnachtsbäume mit elektrischen Kerzen in allen Größen, von Miniaturbäumchen in den Taxis bis zu gigantischen Bäumen vor Rathäusern, erinnern die hastenden Menschen, daß dieses einmalige Fest des Schenkens und Beschenktwerdens, des Geldausgebens und Geschäftemachens immer näher kommt.

Aber kaum einer dieser Menschen denkt noch daran, daß er eigentlich ein Fest feiert, das für ihn sinnlos ist. Denn die meisten der heutigen Menschen haben diesem Fest längst den Sinn entzogen. Sie glauben nicht an das Wunder von Bethlehem. Sie glauben nicht mehr an die Geburt dieses Kindes vor rund 2000 Jahren. Sie haben dieses Kind längst aus ihrem Herzen verbannt und totgeschlagen, teilweise verführt von dem merkwürdigen Gehaben mancher Theologen, die die Auferstehung Christi zu entmythologisieren und parapsychologisch zu erklären suchten. Aber wer nicht die Auferstehung Christi anerkennt, für den braucht auch nicht das Wunder von Bethlehem mehr zu existieren. Das Kind von Bethlehem im Herzen vieler Menschen wurde mit Hilfe so manches Theologen erschlagen, der auch nicht mehr an das Wunder von Bethlehem glaubte, sondern Josef als den Vater dieses Kindes ausgab. Und dies gerade zu einer Zeit, da die Massenzeitschrift „Jasmin“, diese schreckliche neue deutsche „Gartenlaube“, des „Neuen deutschen Spießers Wunderhom", vor kurzem in einem Artikel sehr klar ausführte, was Mediziner schon seit einiger Zeit wissen, daß eine jungfräuliche Empfängnis möglich sein soll. Diese Fälle werden die Millionen von Lesern des „Jasmin" glauben, aber den einen Fall, den die Bibel nennt, werden sie nicht glauben, denn sie haben das Kind von Bethlehem erschlagen. Herodes hat endlich sein Ziel erreicht. Seine Knechte, seit 2000 Jahren auf der Suche nach dem Kind von Bethlehem, scheinen dieses Kind endlich erschlagen zu haben. Und haben auf dieser Wanderung auch gleichzeitig die Kinder unserer Zeit erschlagen.

Es ist noch nicht lange her, da erzitterte die Welt über die Nachricht von einem fürchterlichen Verbrechen, das ln Amerika geschah. Die berühmte Filmschauspielerin Sharon Tate, die ein Kind unter dem Her zen trug, war viehisch ermordet worden und noch einige andere Menschen dazu. Nach einiger Zeit fand man den Organisator der „Band“ dieses schrecklichen Verbrechens, das auf seinen Befehl hin ausgeführt wurde. Er war das Kind einer Prostituierten, die ihn mit 16 Jahren zur Welt gebracht hatte. Niemand hatte sich um ihn gekümmert, er war wie ein Paket hin und her geworfen worden. Aufgewachsen ohne Eltern, ohne Liebe, ohne Nestwärme. Seine Tat soll nicht entschuldigt werden, aber — sind nicht alle Menschen, die ihm seine Kindheit raubten, an diesem Verbrechen mitschuldig? Und wer die Mordverbrechen von Jugendlichen allein in Österreich untersucht, wird immer wieder auf das gleiche Bild stoßen: Niemand hatte sich um diese Mörder in ihrer Kindheit und Jugend gekümmert, bis sie durch ein Verbrechen die Gemeinschaft zwangen, sich um sie zu kümmern.

Die Knechte des Herodes, die seit 2000 Jahren das Kind von Bethlehem suchen, erschlugen auf ihrer Wanderung viele Kinder.

Da bemühen sich tagaus, tagein Tausende von Psychiatern und Psychologen, die Schäden zu hellen, die Menschen in ihrer Kindheit davongetragen haben und von deren Versehrungen sie nicht loskommen. Ganze Bibliotheken sind mit Untersuchungen über die gefährdeten Kinder angefüllt und versuchen den Menschen klarzumachen, daß eine gute Kindheit das beste Kapital ist, das man einem Menschen ins Leben mitgeben kann.

Und dabei steht schon seit 2000 Jahren in der Bibel der berühmte Satz: Wehe, wer einem dieser Kinder Ärgernis gibt! Die Menschen haben Kinder, aber sie wissen vielfach nichts mit ihnen anzufangen. Sie lassen sie unnötig allein, so daß sie aus dem Fenster stürzen oder einen Brand entfachen, in dem sie umkommen. Nie noch hat eine Zeit so viele Kindermißhandlungen gekannt wie die unsrige. Kinder werden erschlagen, weil sie in der Nacht geweint haben oder weil sie nicht einen Löffel Suppe geschluckt haben. Oder Eltern versuchen sich von ihren Kindern loszukaufen, indem sie sie mit Spielzeugen aller Art überfüttern, über deren Besitz die Kinder vergessen sollen, daß ihre Eltern sie vergessen wollen. Viele Kinder gleichen innerlich den verhungerten Kindern von Biafra. Die Knechte des Herodes scheinen endgültig ganze Arbeit geleistet zu haben. Sogar das Kind von Bethlehem scheint diesen Mordgesellen nicht entgangen zu sein.

Weihnachten, das Fest des Kindes von Bethlehem, ist in diesem Sinn ein Trauerfest: ein Mahnmal, daß Millionen von Menschen in die Dienste des Herodes getreten sind und ununterbrochen versuchen, nicht nur dieses Kind von Bethlehem zu ermorden, sondern auf diesem Raubzug gleichzeitig auch die übrigen Kinder von Bethlehem zu erschlagen.

Nur wenige Menschen wissen auch heute noch, daß das Kind von Bethlehem immer wieder diesen Schergen entrinnt und ihm die Flucht nach Ägypten gelingt. Und daß dieses Kind von Bethlehem immer wieder die Menschen dazu aufruft, sich doch seiner verlassenen Brüder und Schwestern zu erinnern. Denn „Wehe, wer einem dieser Kleinen Ärgernis gibt“.

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