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KRIPPE UND STALL 1959

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Wenige Kilometer südlich von Jerusalem liegt der Kibbutz Ramat Rahel. Stacheldraht und spanische Reiter machen am Rande der kleinen Siedlung dem Fremden aus Europa deutlich, daß er am zweiten „Eisernen Vorhang" angekommen ist. Hier findet jede Reise von der Neustadt Jerusalems nach Bethlehem ihr vorzeitiges Ende. Vor wenigen Jahren noch tötete an dieser Stelle eine jordanische Kugel einen israelischen Archäologen. Zur Zeit geht es in Ramat Rahel jedoch friedlicher zu. Von einer Terrasse dicht am Drahtverhau geht der Blick hinüber auf jordanisches Gebiet. Wer ein Fernglas zur Hand hat, kann in der sinkenden Abendsonne die messerscharfen Höhenrücken der Berge Judäas überblicken. Er wird die mit Sandsäcken ausgebauten Stellungen der jordanischen Scharfschützen nicht übersehen. Doch gleich daneben, welch ein Gegensatz! Friedlich grast hier eine große Schafherde. Die Gestalten der Hirten gleichen auf die große Entfernung Statuen. Zwei Jahrtausende Menschheits- und Heilsgeschichte verschmelzen in dieser Szene. Und nicht viel weiter links entdeckt das Auge endlich die Dächer und Türme von Bethlehem — vom Bethlehem des Jahres 1959. Mitten unter ihnen der große weitausladende Bau der Geburtskirche, die sich über der Stallhöhle erhebt, in der das Wort Fleisch wurde.

Wie mag es wohl jetzt an dieser Stätte, die jedem Christen heilig ist, zugehen? Wir können es uns vorstellen. Und der Gedanke daran trübt die Minuten stiller Besinnung. Sind wir doch erst vor wenigen Tagen durch die Straßen Nazareths gegangen, haben wir uns unseren Weg mitten durch feilschende Händler, gerissene Makler und zudringliche Bettler gebahnt, die das Heiligtum stets umkreisen — ja mitunter seine Schwelle nicht achten.

Ja: so wird es auch in Bethlehem sein. Heiliges und Profanes, Erhabenes und Niedriges, Göttliches und Menschliches — oft auch Allzumenschliches: wie nahe können sie nebeneinander siedeln.

Nicht nur im Heiligen Land.

In diesen Tagen und Wochen konnte in Oesterreich unter den Katholiken, vor allem unter jenen der Erzdiözese Wien, keine richtige vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Zu sehr sind wir alle schmerzlich berührt von einem Prozeß, der vor einem Schöffensenat des Wiener Oberlandesgerichtes gerade abläuft. Auf der Anklagebank sitzt ein Mann, dem hohe Summen Kirchengelder anvertraut waren — Steuergroschen zumeist von kleinen Leuten, Arbeitern, Angestellten und Bauern. Der Oberbuchhalter der Wiener Erzdiözese hat das ihm so großzügig gewährte Vertrauen aufs gröbste mißbraucht. Er hat sich in undurchsichtige Geschäfte eingelassen, er ist hinabgestiegen in Bezirke, in denen sich politisierende Halbwelt und übelste Geschäftemacher ein Stelldichein geben. Das Ende konnte dann nicht zweifelhaft sein.

Dem Angeklagten wird sein Urteil gesprochen werden. Uns allen aber werden die Folgen dieses Prozesses noch zu schaffen machen. Die Katholiken der Wiener Erzdiözese können jedoch versichert sein: ihr Kummer und ihre Sorgen sind auch der Kummer und die Sorgen ihres Oberhirten. Sie dürfen deshalb damit rechnen, daß, nachdem der Richterspruch gefällt ist, auch die Kirche aus berufenem Munde sprechen wird.

Das Unheilige, das Profane, das Kriminelle, das sich an die zeitliche Existenz der Kirche immer wieder mit den Krallen des Vampirs anzuheften versteht, kann und darf das Vertrauen zwischen den Gläubigen und ihrem Bischof, dem wir gerade in dieser Stunde unsere besondere Liebe, unsere bewußte Anhänglichkeit und unerschütterliche Treue versichern, nicht stören.

Ueber den Bergen Judäas ist die Sonne untergegangen. Rasch fällt in diesen Breiten die

Dämmerung ein. Da gehen die Gedanken noch einmal hinüber nach Bethlehem. Bald werden wir wieder an die Krippe treten, der frohen Botschaft unser Ohr leihen und das Fest der Geburt des Gottessohnes feiern. Wer aber zur Krippe gehen will, darf vor dem Stall nicht zurückschrecken. Da kann es manches geben, was geeignet wäre, das Auge abzulenken. Von den Wänden mag das Wasser tropfen, und dort das kleine Häufchen Unrat in der Ecke ... Morgen wird man es hinausputzen.

Wer hat dafür ein Auge, wenn er gekommen ist, um die Kraft und Herrlichkeit zu schauen?

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