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Sizilien der Sizilianer

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LANDUNG IN CATANIA. Flugplatz direkt am Meer. Mitten im Winter Spaziergänge ohne Mantel. Schlaf bei offenem Fenster. Blühende Mandelbäume, gleichzeitig Ernte in den Zitrusplantagen. Herbst und Frühling zugleich. Winter so fern wie der Sommer. Eine Reise wie ein Traum. So unwirklich anmutend, wenn wieder vorbei. Wenn Schnee wieder ringsum. Doch nicht davon soll hier die Rede sein.

Denn das Sizilien der Touristen ist nicht das Sizilien der Sizilianer. Deren Leben ist alles andere als ein Urlaub. Die süßen Früchte, die sie ernten, betrachten sie als einen Ausgleich des Schicksals. Besser als viele andere wissen sie, daß die süßesten Früchte sehr oft diejenigen sind, für die der meiste Schweiß vergossen wurde.

Hart wie die Lava vom Ätna sind die Menschen. Hart, fromm, konservativ und an Leiden gewöhnt. An Leiden und an Hunger. Millionen Sizilianer essen kaum etwas anderes als Zitrusfrüchte, Oliven, Schafkäse und etwas Brot. Billige Speisen auf Sizilien. Billig wie der Wein, der gerne mit Wasser und Zitronensaft verdünnt getrunken wird und „vom Ätna“ heißt, so wie anderswo Fras-cati oder Chianti.

SIZILIENS WICHTIGSTE EINNAHMEQUELLE sind die Zitrusfrüchte. Wo sie gedeihen, spielen sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Bewußtsein der Menschen eine außerordentlich wichtige Rolle. Der Ätna, der Catania zweimal vernichtet hat, zuletzt im Jahr 1600, der Schicksalsberg eines Landes, der noch nach dem zweiten Weltkrieg ein ganzes Dorf verschlang, liefert an der Ostküste den Boden für die Zitruskultur.

Einen harten Boden. Die Arbeit ist furchtbar schwer und vieles, was anderswo die Frauen erledigen können, bleibt hier den Männern vorbehalten. Dafür gedeihen auf diesem Boden Früchte wie kaum sonstwo. Denn der Boden ist Lava, vulkanisches Gestein, das lange Zeit zum Verwittern braucht, dann aber besonders fruchtbar ist.

Sizilien genießt unter den Ländern, die Orangen, Mandarinen und Zitronen für den mitteleuropäischen Markt produzieren, eine Vorzugsstellung. Von hier aus ist der Weg zu den großen Verteilungszentren in Österreich und Deutschland am kürzesten. Es ist möglich, die Früchte so lang auf den Bäumen zu lassen, bis sie vollreif sind, und sie trotzdem frisch auf den Markt zu bringen.

Allerdings muß dann das Pflücken, Verpacken und Verladen blitzartig vonstatten gehen. Keine Minute darf vertan werden, denn Minuten summieren sich zu Stunden und Stunden zu Tagen. Und die Konkurrenz schläft nicht und das Land ist arm. Vitamine für den Norden — Geld für den Süden.

DOLCE FAR NIENTE? Wo ist das süße Nichtstun geblieben? Man kann mit den Augen unmöglich den Fingern der Arbeiterinnen folgen, welche die Früchte einwickeln. Sie sind viel zu schnell. Mit wieselflinken Augen mustern sie den Fremden, der die Halle besichtigt, ohne ihre Tätigkeit nur eine Sekunde zu unterbrechen. Um Platz zu sparen, kehren sie den großen, hölzernen Rinnen mit den Orangen, Mandarinen oder Zitronen ihre Schmalseite zu, dichtgedrängt hocken sie zu Dutzenden in einer Reihe, dreißig Orangen pro Minute traue ich ihnen ohne weiteres zu.

Dabei arbeiten sie nicht im Akkord. Sie arbeiten von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends, mit einer Stunde Mittagspause, als Lohn für 14 Stunden Arbeit bekommen sie 1600 Lire, das entspricht rund 65 Schilling. Arbeiterinnen zwischen 14 und 16 Jahren müssen sich mit 1000 Lire begnügen, das sind 40 Schilling.

Denn nicht nur die Konkurrenz der sizilianischen Früchte auf dem Weltmarkt ist groß. Ebenso groß ist die Konkurrenz auf dem sizilianischen Arbeitsmarkt.

AUSGEZEICHNET BEZAHLT SIND DIE MÄNNER, die die Waggons beladen. Je nach dem Wunsch des Abnehmers mit lose aufgeschichteten Früchten, mit Kisten, mit eingewickelter oder nicht eingewickelter, in Kartons verpackter oder fertig in Nylonnetze abgepackter Ware. Diese Schwerarbeiter gehen mit rund 1400 Schilling pro Woche nach Hause, aber auch für sie hat das Arbeits jähr, so wie für die Wicklerinnen, nur ein paar Monate. In der übrigen Zeit ist es ihre Sache, wo sie bleiben und wovon sie leben. Und während man in Italien sonst damit rechnen kann, daß jede Arbeitskraft drei Esser ernährt, kommen auf jeden arbeitenden Sizilianer durchschnittlich fünf hungrige Mäuler zu Hause.

Denn Sizilien ist nicht nur ein karges, sondern auch ein frommes und kinderreiches Land.

Nicht die Zahl der Arbeitslosen, der völlig ungenützten menschlichen Arbeitskraft, sondern die Unterbeschäftigung ist sein größtes Problem.

NICHT NUR AUS SOZIALEN GRÜNDEN behauptet die menschliche Arbeitskraft im sizilianischen Zitrusfrüchteversand vorläufig ihren Platz. Sie kommt auch billiger als Wickel- und sonstige Maschinen. Wäre es nicht so, dann hätte man längst rationalisiert, auch hier. Die griechische, spanische, israelische Konkurrenz drückt den Preis ohnehin zeitweise bis in gefährliche Nähe der Selbstkosten. Qualität ist praktisch die einzige Waffe in diesem Konkurrenzkampf. Fünfzig staatliche Kontrollore wachen in den Verladebahnhöfen und Häfen mit Argusaugen und lassen nur einwandfreie Ware ins Ausland. Unter einwandfreier Ware versteht man in Sizilien Orangen und Mandarinen, die weder auf dem Baum noch nach dem Pflücken mit irgendwelchen chemischen Präparaten in Berührung gekommen sind. Zitronen dürfen nur während des Sommers in chemisch behandeltes Papier gewickelt werden — eine deutliche Aufschrift hat darauf hinzuweisen.

Die Zitronen, die im Hafen von Catania kistenweise im Inneren russischer Frachter verschwinden, sind allerdings auch im Winter chemisch präpariert. Die sowjetischen Handelsbehörden wünschen es ausdrücklich so. In der Person eines Auf-sichtsbeamten, der den Kai nicht verläßt, solange die Verladearbeiter am Werk sind, sind sie sozusagen höchstpersönlich vertreten.

NATURPRODUKTE AUF DEM FLIESSBAND. In Sizilien kann man das sehen. In großen Hallen wandern die Orangen völlig selbständig erst einmal über eine breite Straße rotierender Bürsten, die den Lavastaub entfernen. Männer heben und entleeren die Kisten, schleppen sie von einer Stelle zur anderen, füttern das Fließband, verschließen die Transportbehälter. Die Frauen stehen am Band und sortieren alles aus, was sich überhaupt nicht für den Verkauf oder nur für das Inland eignet. Frauen wickeln. Zum Teil in Papiere, die der Besteller aus dem Ausland nach Sizilien geschickt hat. Bedruckt mit seinem Namen, mit der Sortenbezeichnung — Tarocco, San-guinello und so weiter —, mit der Marke, zum Beispiel Struwwelpeter.

Der Konsument will gut und billig bedient werden, und er wird gut und billig bedient. Es ist ihm gleichgültig, daß von den 452.420 Zitruspflanzun-gen in Sizilien 83 Prozent kleiner sind als fünf Hektar und nur drei Prozent größer als zwanzig Hektar, daß aber die vielen kleinen Leute, die sich als Pflanzer betätigen, nur zum Teil gleichzeitig auch Eigentümer des Bodens sind, den sie bebauen. Viele haben ihn nur gepachtet. Und fünfzig Prozent der Ernte gelten in Sizilien auch heute noch keineswegs als überhöhter Pachtzins.

DAS LANDESINNERE IST KARG. SEHR KARG. Nur der beste Boden wird für die Zitruskultur herangezogen. Wovon die Leute in den übrigen Gegenden leben, fragt man sich. Von ein wenig Landwirtschaft, ein wenig Schafzucht, vom Schwefelbergbau, vom Wein. Mit knapp fünf Millionen Einwohnern auf einer Fläche, die etwa einem Drittel Österreichs entspricht, ist Sizilien hoffnungslos übervölkert. Wenigstens solange es keine eigene Industrie besitzt. Ansätze zur Industrialisierung gibt es bereits. Catania nennt man heute schon das „Mailand des Südens“. Doch die Menschen, die heute hungern, haben keine Lust mehr, auf ein schöneres Morgen zu warten.

Während ich die Fokker Friend-ship der Alitalia bestieg, die mich von Catania nach Palermo bringen sollte, nahmen auf dem Flughafen Sizilianer weinend Abschied voneinander. Schluchzende Frauen, Kinder, die sich an ihre Väter klammerten — Auswanderer! Auswanderung ist für den Sizilianer auch heute noch der Ausweg aus der Not. 400.000 Sizilianer haben in den letzten zehn Jahren ihre Heimat verlassen. Sie gingen nach Amerika, nach Australien, nach Deutschland oder, was der Sizilianer als das schlimmste mögliche Schicksal empfindet, nach Norditaliein. Drei Millionen Sizilianer leben in aller Welt. Eine Million allein in New York.

DER MAFIOSO GEHT MIT IHNEN. Denn wo Sizilianer sind, dort leidet ein Mitglied der Mafia keine Not. Dort braucht er nur die Hand aufzuhalten. Dort zahlt der arme Sizilianer willig, auf daß der reiche Mafioso noch reicher werde. Er zahlt in New York, in Melbourne, in München. Voll Angst und an Kummer gewöhnt, zahlt er und hält sich streng an die Omertä, das Gebot des Schweigens. Das macht es unmöglich, ihn von den Blutsaugern zu befreien. Das verschafft überall, wo Sizilianer leben, den Polizeipräsidenten graue Haare. Das korrumpiert auch die Ortsansässigen. Das schafft den Nährboden für eine blühende bodenständige Verbrecherwelt.

Die Mafia ist die größte Erpresser-Organisation der Welt. Unmöglich zu schätzen, wieviel Millionen Dollar Jahr für Jahr in ihren dunklen Kanälen verschwinden. Um wieviel es der Sizilianer leichter hätte ohne sie.

Die Mafia wurde einst gegründet, um die armen Bauern vor ihren Bedrückern zu schützen. Dabei wurde sie selbst zum ärgsten aller Feudalherren. Geld spielt ihr keine Rolle,wenn es gilt, es auszugeben, nur beim Eintreiben kommt es auf jedes Lirestück an. Will die Mafia einen Mißliebigen aus der Welt schaffen, so stellt sie ihm ein Auto vor das Haus, wer seine Tür öffnet, zündet damit eine 50-Kilogramm-Bombe.

: FELSEN, DIE STEIL in das Meer abfallen. Paternö. Die alte Normannenburg. Sizilien hat Ausbeuter aller Art gesehen. Cata-nia. Straßen, die man mit Bühnenbildern für Stücke der Commedia dell'arte verwechseln könnte, Höfe, in denen man sich nicht wundern würde, plötzlich die Damen und Herren versunkener Epochen aus dem Schatten treten zu sehen, großzügig angelegte Plätze, Zeugnisse vergangener Größe. Taormina. Wunderliche Felskegel. Und prächtig geschmückte Eselskarren allenthalben, und romantische, arme Dörfer. Das ist das Sizilien der Touristen.

Abends auf den Straßen, auf den Plätzen: Männer, die mit großen Gebärden über alles mögliche reden, vor allem über Politik. Es ist eine Freude, ihnen beim Diskutieren zuzusehen.

Gleichmütig beobachten sie die Touristen.

Das Sizilien der einen hat mit dem Sizilien der anderen wenig gemein.

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