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Slawische Tonkunst

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Das Bewußtsein der slawischen Gemeinsamkeit, das in unserer Zeit zu einer wichtigen politischen Tatsache geworden ist, war von jeher auf eine seelische Verwandtschaft der Völker gegründet, die einander durch die Ähnlichkeit ihrer Sprachen nahestanden. So wie zwischen diesen Idiomen eine größere Verbundenheit besteht als etwa zwischen den einzelnen romanischen oder germanischen Sprachen, so trägt auch die Musik bei Russen, Ukrainern, Polen, Tschechen, Südslawen, Bulgaren einen gemeinsamen Charakter, der die Tonkunst jeder einzelnen dieser Nationen beinahe als Variation über ein Grundthema erscheinen läßt. Wenn in den gesellschaftlichen Einrichtungen, im Denken, in der Wissenschaft, in allem, was vom Verstand gelenkt wird, die slawischen Völker voneinander abweichende Wege schritten, unter dem Einfluß der für jedes unter ihnen verschiedenen historischen Entwicklung: in der Musik, die aus den Tiefen des Gefühls quillt, die aus Urkräften genährt wird, ist die Spradie, die der Töne, einheitlich geblieben. Und das kann der empfängliche Hörer am Beispiel slawischer Musik aus mannigfachen Zonen wundersam, wunderbar erfahren.

Was sind die Kennzeichen slawischer Tondichtung? Daß sie stets aus der Volksseele kommt, mag sie auch einen längeren Weg durchwandert haben, ehe die Empfindung und die Idee Rhythmus und Melodie geworden sind. Daß die slawische Musik an den Boden gebannt ist, aus dem sie aufsteigt, und daß sie zeitlos immer wieder auf ewige Themen zurückgeht, die den Horizont der slawischen Landschaft beherrschen. Diese Musik ist, um die Worte des polnischen Poeten Slowacki zu zitieren, fähig, alles auszudrücken, was den Geist in Schwingung versetzt; sie ist bald traurig wie das Lied der weiten Steppe, bald überschäumend in toller Lustigkeit.bald derb und erdhaft, bald zart wie himmlische Sphärentöne. Niemals aber, sofern dies slawische Musik ist und nicht etwa fremder Import oder Nachahmung wesensferner berühmter Muster, sind hier die Töne bloßes Prunken mit blendenden Einfällen, leerer Schall und Rauch, einer sinnlosen Gebärde vergleichbar, Virtuosenkunststücke, an denen das Herz dessen unbeteiligt bleibt, der sie ausgeführt hat. Als Erbe ihrer volkstümlichen Ursprünge besitzt die slawische Musik Beweg“'“ heit und Buntheit, Innigkeit und Leidenschaft. Die Nahrhaftigkeit eignet ihr in so hohem Grade, daß daran keine künstlerische Verfeinerung etwas ändert. Slawische Musik; das Rauschen der Ströme und das Flüstern im geisterbewohnten Wald, das Gleiten der Wellen im verzauberten See und der Hexenspuk auf kahlen Berghöhen; die Sehnsucht in mondbeglänzter Nacht, das Erblühen der Blumen und der Brunstschrei der Tiere; die Triebe alle, die auch im Menschen ungebändigt 5hausen: Freude und Schmerz, Liebe und Grausamkeit, Lebenshunger und Todesbereitschaft.

So steht es vor allem um die großen Russen: Glinka, Borodin, Balakirew, Mus-or'gski, Rimsky-Korsakow. So verhält es sich sogar bei den Westlern, die durch italienische und deutsche Meister geprägt scheinen, selbst bei Tschaikowsky, Skrjabin, Rach-maninoff, Strawinsky. Aleksandrow, und Schostakowitsch, die alle den Weg zurück zur russischen Erde fanden und aus der Berührung mit ihr immer wieder neue Kraft schöpften. In der nationalen Bedingtheit gleichen einander, trotz aller Mannigfaltigkeit, das „Leben für den Zaren“ Glinkas, der „Fürst Igor“ Borodins, der „Boris Go-dunow“ Mussorgskis, Rimsky-Korsakows „Sadko von Nowgorod“, desselben Komponisten „Goldener Hahn“ und Strawinskys „Petruschka“, die Ouverüre „1812“ von Tschaikowsky samt ihrer Makart-Pracht und die „Leningrader Symphonie“ Schostako- witschs in ihrer neuen Sachlichkeit. Und in die feierlichen, getragenen Rhythmen der großartigen Sowjethymne Aleksandrows sind die Weiheklänge aller früheren Geschlechter eingeströmt. Altrussische Kirchenmusik, wie sie heute am reinsten noch in Gretschaninow fortlebt, und vorchristliche heidnisch-slawische Magie der Töne, wie in der „Nacht auf dem Kahlenberg“ Mussorgskis oder im „Frühlingsopfer“ Strawinskys, weisen zurück in die Vorzeit. Während aber die westliche Musik stets nur als Lehrmeisterin für Theorie und Technik des Schaffens empfunden wird, fügt sich Orientalisches so selbstverständlich mit Slawischem zusammen, wie sich im russischen Wesen das Vermächtnis der Tataren erhalten hat und wie Kaukasisches, Persisches, Türkisches ins russiche Volkstum hineinragen. Die „Polowezer Tänze“ im „Fürsten Igor“ und „Aus den Steppen Zentralasiens“ des genialen Alexander Borodin, die märchenschöne „Schehere-zade“ Rimsky-Korsakows, der „Feuervogel“ Strawinskys bestätigen glorreich dieses In-einanderverschmelzen zweier seelisch komplementärer und örtlich benachbarter Welten. Die polnische und die tschechische Musik haben sich reiner slawisch erhalten, weil sie dem muselmanischen Osten örtlich fernblieben, dagegen vom germanischen Mitteleuropa durch eine unsichtbare Scheidewand gegenseitiger Abneigung getrennt waren, durch die zwar ununterbrochen Einflüsse und Anregungen, nie aber Wesenselemente hindurchdrangen.

In der Trauer und im Stolz des Halbfranzosen Chopin, der so ganz und so ausschließlich Pole ist, in den durchaus nationalen Opern Moniuszkos — „Halka“, „Das Geisterschloß“ —, bei Paderewski, der — im gebührenden Abstand von Chopin, doch nicht unebenbürtig Moniuszko — als beider Nachfolger zu nennen ist; bei den beiden großen polnischen Musikern der jüngsten Vergangenheit, Karol Szymanowski und Lu-domir Rozycki, ist der Raum für ihre Kunst bestimmend und inspirierend. Nicht nur

Rozyckis „Herr Twardowski“ oder „An-helli“, sondern auch der „König Roger“ Szy-manowskis sind der polnischen Umwelt und der polnischen Tradition verhaftet. Nicht anders die tschechische Musik, erwachsen aus der Heimatscholle und aufs holdeste ersprießend, wenn sie diese Heimat verherrlicht: in Smetanas „Verkaufter Braut“, in dessen „Dalibor“ und „Libussa“, in der sim-phonischen Dichtung „Mein Vaterland''; oder bei Dvorak, der selbst in seiner berühmten N Symphonie „Aus der Neuen Welt“ die Erinnerung ans teure Vaterland nicht los wird. Und schöpft nicht die liebenswürdigste unter den neueren tschechischen Opern, Jaromir Weinbergers „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“, ganz aus dem Born der Volksmelodien?

Diese volkstümliche Dominante ist noch stärker bei Südslawen und Bulgaren, deren Musik in der weiten Welt nicht so bekannt ist, wie die der Russen, der Tschechen und sogar die recht stiefmütterlich behandelte der Polen. Ein überragender Meister, Josef Slavensky, der auf dem Balkan eine ähnliche Rolle spielte wie Strawinsky im Westen und für Rußland, hat in seinen repräsentativen Werken, wie der „Balkanophonie“ und der „Jugoslawischen Suite“, zuerst die Aufmerksamkeit der europäischen Musikfreunde auf sich gelenkt. Südslawien und Bulgarien sind vor allem Neuland, das für die internationale Kunstkritik erst entdeckt werden muß, obzwar es längst gültige und währende Leistungen aufzuweisen hat.

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