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Sommerliche Erinnerung

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Was bleibt vom Sommer? Der Wespenstich ist abgeschwollen, die Sonnenbräune allmählich verblaßt, das T-Shirt mit Palmen verwaschen, die Fotos eingeklebt und die Badehose verstaut. „Was bleibet aber stiften die Dichter”, meinte Hölderlin, womit er die poetische Erinnerung aufwertete, zumindest ihre Verklärung, auch wenn sie für den persönlichen Gebrauch noch nicht endgültige Formen angenommen haben sollte.

Es „bleibet” zum Beispiel bis zu ihrer späteren Übertünchung eine Serie von heidelbeerfarbenen Fingerabdrücken an der Wand. Wie die archaischen Felszeichnungen in prähistorischen Höhlen von den Abenteuern unserer jagenden Vorfahren erzählen, so berichten diese Flecken von den Sommerfreuden einer angestammten und durch Freunde bereicherten Kinderschar. Eine Art Denkmalschutz-Schauder hindert mich, den übermalenden Pinsel anzusetzen. Sollte man nicht solche Zeugnisse von Übermut und Lebensfreude an der Wand belassen, ja sogar schützen? Wenn sie sich solange konservieren ließen wie die erwähnten Felszeichnungen, könnte man sie nach Jahrzehnten den erwachsen gewordenen Sprößlingen und ihren Freunden zeigen: Seht, so habt ihr damals gelebt, in diesem Sommer, das Bleibende an der Wand stiftend!

Alle verfügbaren Betten und Diwans waren in diesem Sommer aufgestellt und sauber bezogen worden, auf daß die Kinderschar sich nach des Tages Tollerei zivilisiert und hygienisch zur Ruhe begeben könne. Was man halt so beginnende Nachtruhe nennt, mit Räubersgeschichten mit der Taschenlampe unter der Tuchent und endlosen Flüstererzählungen seligen Kinder-Beisammenseins.

Enttäuschung, wenn nicht gar Verachtung, lag jedoch in den Kinderblicken und Kommentaren angesichts der aufwendigen Vorbereitung. Nein, Betten brauche man nicht, auch nicht Tuchenten und diesen ganzen Schlafkomfort, welcher viel zu sehr an heimliche Nächte, an elterliche Ordnung und häusliche Zwänge erinnere. Also, was dann? „Matratzenlager!” brüllt der Chor wie aus einem Munde. Am liebsten in einem Zelt im Garten. Einigung auf einen Kompromiß. Ein festes Dach überm Kopf war doch nicht ganz zu verachten. Sterne und Mond kommen auch durchs Fenster. Jedoch Betten und Diwans ausgeräumt und jene Feldlager-At-mospäre erzeugt, die den kleinen Abenteurern so vorschwebt. Mit karierten Decken und so. Für die Zukunft weiß ich, was kluge Kinder wünschen. Eine Art Zimmer-Camping.

Mit einer sehr leistungsfähigen Weitwinkelkamera, die ich nicht besitze, hätte sich die Szene vielleicht einfangen lassen, die der Morgen im jugendlichen Feldlager bot. Irgendwie, ohne hier in unmenschlichen Zynismus zu verfallen, erinnerte das Bild an die im Fernsehen öfter gezeigten Flüchtlingslager. Woraus ich argwöhne, daß den Kindern das Elend dieser Verjagten, wenn sie es im TV-Flimmer ohne den Wirklichkeits-Rahmen wahrnehmen, recht romantisch erscheinen muß. Hier aber, im gesicherten Frieden gemeinsamer Sommerfreuden, da war das heillose Durcheinander die reinste Glückseligkeit. Die fürsorgliche Gattin wagte es erst nach zweimaligem vorsichtigen Versuch, nach dem sie wieder zurückschreckte, den Raum zu betreten. Sprachloses Entsetzen lag in der Miene.

Erst gewöhntes Chaos ist halbes Chaos. Hatten wir nicht am Traualtar versprochen, einander auch in schweren Stunden beizustehen? Wir standen also bei und gewöhnten uns. Am dritten Morgen waren wir abgehärtet.

Und heute ist das längst vorbei, und ein sentimentales Lächeln huscht über unsere Antlitze. Wir haben viel gelernt in diesem Sommer. Zum Abschied hatten wir sie alle nacheinander in die Badewanne gesteckt. Die mittlere Sintflut im Badezimmer ist spurlos beseitigt. Zwischen Altweibersommer und Frühherbst kommt eine Stille auf, die den Kindersommer maßlos verklärt.

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