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„Spähtrupp“ in Rußland

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Der Zeiger auf der Uhr vor uns, der sich in der letzten halben Stunde stetig gedreht hatte, wurde in seinen Bewegungen immer langsamer, 9000, 9-100, 9200. Bei 9300 blieb die Nadel zitternd stehen. 9300 Meter zeigte der Höhenmesser in der Kabine des Flugzeuges. Durch die Fenster drang milchiges, diffuses Licht herein, wir hatten die Wolkendecke doch Jucht zur Gänze durchstoßen können. Aber was macht das schon aus, wenn nur der Kurs richtig war. Und der hieß: Richtung Heimat. Vor einer Woche waren wir in der umgekehrten Richtung geflogen. Voll Spannung, voll Erwartung, voll Neugierde, der eine oder andere von uns vielleicht auch mit ein wenig Beklemmung.

Wir, das war eine Gruppe österreichischer Katholiken, 15 an der Zahl, Priester, Mönche und Laien, Universitätsprofessoren und Journalisten, Männer und zwei Frauen. Keiner von uns war jemals in Rußland. Und der Kurs hieß damals Kiew-Moskau. Hunderte Österreicher sind in den letzten Jahren nach Rußland gefahren, wir aber hatten uns eine besondere Aufgabe gestellt. Wir hatten damit auch nicht hinter dem Berg gehalten, sondern sie offiziell als unser Reiseziel angegeben: wir wollten die religiösen Einrichtungen in der Sowjetunion kennenlernen. Ein großes Vorhaben für eine Reise von acht Tagen.

Hatten wir dieses Ziel erreicht? Als wir an diesem Morgen nach über einer Stunde Wartezeit am Moskauer Flughafen — einem sehr modernen Gebäude, neben dem sich aber Schwechat ohne weiteres sehen lassen kann — in das Flugzeug stiegen, da waren wir alle rechtschaffen müde und froh, daß es wieder zurück in die Heimat ging. Eine gewisse Erregung hatte auch jene im Flugzeug nicht schlummern lassen, für deren gute Nerven sonst das leise Dröhnen der Düsenmotoren immer ein willkommenes Schlummerlied war. War es das Bewußtsein, die Reise abgeschlossen zu haben, war es vielleicht eine leise Furcht, daß die Eindrücke, die in wenigen Tagen auf uns eingestürmt waren, sich vielleicht allzu rasch verflüchtigen könnten, daß wir in unseren Gesprächen immer wieder versuchten, Schlußfolgerungen aus unseren Erlebnissen zu ziehen, gewissermaßen ein Resümee unserer Eindrücke und Erkenntnisse? Schon in diesen Gesprächen zeigte es sich, wie subjektiv eigentlich diese Eindrücke waren, daß dem einen dies, dem anderen das am bemerkenswertesten schien und daß eigentliche Einhelligkeit nur darüber bestand, wie sehr wir uns hüten sollten, aus diesen unseren persönlichen Eindrücken allgemeine Urteile abzuleiten.

Wir hatten am letzten Abend unseres Aufenthaltes in Moskau noch Gespräche mit Angehörigen der österreichischen Botschaft geführt. „Ich lebe eineinhalb Jahre in Moskau“, sagte einer von ihnen, „aber ich getraue mich heute weniger denn je, ein Urteil über dieses Land und seine Menschen abzugeben.“ Nun, wenn man nicht eineinhalb Jahre, sondern nur wenige Tage in einem Land ist, hat man im allgemeinen solche Hemmungen nicht. Noch hat nicht der dritte und vierte den ersten und zweiten Eindruck verwischt, noch empfindet man die Unmittelbarkeit seiner Erlebnisse, noch scheint sich alles zu ordnen, was bei näherem Zusehen wahrscheinlich unscharf wird. Aber man muß ehrlich genug sein, eines sich einzugestehen und darum sei dieses Eingeständnis gleich an die Spitze dieses Berichtes gestellt: Alles, von dem wir reden können, sind unsere persönlichen Eindrücke, gewonnen aus dem, was wir gesehen und was wir gehört haben. Und auch die Schlüsse, die wir ableiten, sind unsere persönlichen Schlüsse, sie können und wollen keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Sie sind nicht objektiv, sondern höchst subjektiv.

Was haben wir wirklich schon gesehen von dem Land und von seinen Menschen? Eine Reise mit dem Flugzeug, so angenehm sie ist, so sehr sie die Vorbedingung zu sein scheint, heute überhaupt größere Entfernungen zu überwinden, beraubt den Reisenden jedoch eines der unmittelbarsten Erlebnisse, nämlich neben der Landschaft auch die Weite eines Landes kennenzulernen. Daß Rußland ein großes Land ist, wissen wir, weil wir es in der Schule gelernt haben und weil wir der Landkarte glauben. ;

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