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Stalingrad

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Die Krankenstuben der Hauptverbandsplätze und Lazarette wurden überstürzt geräumt, wertvolles Gerät und medizinisches Material, Lebens, und Genußmittel mit Benzin übergössen und den Flammen zum Opfer überlassen. Kranke und gehfähige Verwundete aus dem Dongebiet mußten Kilometer um Kilometer innerhalb des Kessels in Richtung Stalingrad marschieren. Man gab ihnen als Wegzehrung nur trockenes Brot mit, denn1 die anderen Lebensmittel mußten ja aur Befehl der Herren Zahlmeister vernichtet werden — ein „Diebstahl“ aber wurde schwer bestraft. Welch ein Wahnsinn!

Ich sah, wie ein Landser auf einer der Rückzugsstraßen einen Karton, -in der Hoffnung Drops darin zu finden, vor dem Feuer rettete und damit eiligst davonlief. Wie entsetzt war der Ärmste, als er beim öffnen des Pakets anstatt der vermuteten Drops — Fliegenfänger vorfand.

Mit meiner Einheit landete ich mitten im tiefsten Winter und mit unzulänglicher Bekleidung in einem verwüsteten Bauerndorf in der Nähe von Stalingrad. Zwischen den zerschossenen dachlosen Ruinen gab es keine heizbaren Unterkünfte, kein Brennmaterial, kein Stroh, keine geschützten Bunker, kein Futter für die Pferde, nur wenige Medikamente. Es mangelte an Munition und Betriebsstoff. Aber Hunger, Hunger!

Die Umfassungsfront rückte immer näher und trotz der Aussichtslosigkeit Wurden wiederholte Angebote der Russen zur Einstellung der Kampftätigkeit und Ubergabe unbegreiflicher Weise von unseren Stellen abgelehnt. Noch schwätzte die Propaganda. Doch kein real denkender Mensch glaubte noch an Mirakel.

In der Christnacht war Schneesturm. Wir hatten nichts als zwei Scheiben Brot und eine Pferdebrühe zum Nachtmahl. Eine Wadvskerze erhellte das Dunkel der halb zerfallenen Hütte. Draußen heult der Sturm über die mit Sdmee bedeckte Steppe, bersten die Granaten der feindlichen Artillerie„ hämmern ununterbrochen die Maschinengewehre und stündlich kreisen Hugzeuge in der Luft. Unsere Worte zerfließen, zerrinnen, sie geben keinen Sinn, es bleibt nichts, als ein verworrener Eindruck, ein Gefühl unbestimmten Grauens und Entsetzens. Im halbdunklen Raum srarre idi in die sinken.le Nacht . . . meine Gedanken schweifen in die Ferne . . . heim zu meinen Lieben . . . mit der Sehnsucht im Herzen, bald, bald diesem Chaos entfliehen zu können, um die Heimat wiederzusehen — oder: Leb wohl, du sonnige Jugend7eit!

So vergingen die Tage. Silvester umd Neujahr das gleiche Erleben. Längst ist das Dunkel über die Ebene gefallen. In dem kalten Raum flüstert es: trübe, trostlose Dinge sind es, sonderbare Silben, die sich die Kameraden zuraunen. Schwere tiefhängende Wolken ziehen eilig über das dunkle Land ...

'Anfang Jänner 1943 nehmen die Verwundeten und Kanken in ersdireckendem Maße zu. Der Ausfall an kampffähigen Männern, wenn von solchen noch die Rede sein kann, ist durch nichts mehr zu ersetzen. An Nachschub ist nicht zu denken. Die Not wird immer größer — schwerer das Leid. Es ist ein sinnloses Opfern.

Eines Tages stehen wir zum Abmarsch in den Tod bereit. Man verlangt von uns die Rückgabe der „eisernen Portion“ zugunsten der Zurückbleibenden. Zwei Tage schon ohne Nahrung und auch diese kleine Ration wird unbarmherzig abgenommen. Wir marschieren im Schneesturm . . . wohin? Zu einer neuen uns unbekannten Einheit. Bei der ersten Feldküche, der wir begegnen, zuckt der Koch die Achseln: „Woher nehmen?“ Ein anderer'stellt nur achselzuckend fest: „Es ist so!“ Eine heiße Sehnsucht und Liebe zu unseren Angehörigen, eine Hoffnung auf ein Wiedersehen, geben uns neue Kräfte. Wir marschieren weiter. An einer Feldküche essen wir Salz; dort findet ein Kamerad ein Stück rohes Pferdefleisch, es geht weiter. So gelangen wir zu der neuen Einheit, die aber auch nichs hat und gerade am Einpacken und Absetzen ist. An Schlaf ist seit Tagen nicht mehr zu denken. Unterwegs sind Kranke und Verwundete zu betreuen. Endlich finden wir oinen verlassenen Bunker am Hang. Ununterbrochen platzen russische Panzergranaten auf Bunker, Unterkünfte, Schluchten, Feldküchen und Verbandsräume. Einige Kameraden sind verwundet, andere gefallen. Es heißt wieder räumen — und noch kein Ende!

So ziehen wir weiter durch Schluchten, die mit toten Menschen und Pferden besät sind und kommen auf die Straßen der viele Kilometer langen zerstörten Stadt an der Wolga. Zögernd schreite ich weiter, gelange auf verschneites Feld und erreiche das Ufer des riesigen Stromes. Eine Lichtung gibt mir den Blick über das Wasser frei. Mächtig und unüberwindlich rauscht der große Strom dahin. Am Ufer quirlt und brodelt es. Tiefes, rauhes Murren, Keuchen, Aufbegehren, Zurücksinken. Ir ganzen ein gleichmäßiges, fast eintöniges Lied, aber unvermittelt keucht dann und wann ein Laut hervor wie ein hohler, verzweifelter Schrei. Das Lied hat nicht das Gewaltige, Unüberwindliche der Meeresbrandung. Es ist ein Kampf in engeren Grenzen, aber es ist ein harter Kampf. Und noch immer kein Ende?

Ich ziehe eine Parallele zwischen hüben und drüben, die in Tiefen vorstößt, deren Ergründungen sonst nur dem in voller Breite arbeitenden Epiker oder dem Dramatiker vorbehalten sind.

Eines Tages hat es auch mich gepackt. Von schweren Strapazen bricht der ausgehungerte Körper zusammen. Man bringt mich mit Erfrierungen und einer Hepatitis in ein Sanitätszelt auf den einzigen, noch in unserer Hand befindlichen Flugplatz. Vielleicht geht es heim? Trotz meiner Asthenie war mein innerstes animalisches und physisches Leben von einer Spannung des Geistes potenziert, wie ich sie in meinem bisherigen Leben nur selten empfunden hätte. Mich überkommt ein Glücksgefühl und eine Hoffnung. — Und wie das Glück manchmal mit einem Menschen spielt — ich kann noch in derselben Nacht mit einem der letzten gestarteten Bombenflugzeuge der Hölle entrinnen. Welch ein Gottesgeschenk. . . nur Wenigen beschert das Schicksal solch ein Glück!

Nun sind es fast vier Jahre seit dem Fall von Stalingrad.

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