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Szenenwechsel in Prag

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Stämmige Turnerinnen im Rhythmus getragener Musik, dann eine Jazzband auf der Freilichtbühne, ein Spaßmacher mit harmlosen politischen Zweideutigkeiten, Lotterie, Luftballons und allerlei Lustbarkeit, dazu heiße Würstchen mit Pilsner aus Fässern, die sich zwischen Eisblöcken zu Pyramiden stapelten — das war das Sommerfest im Stadtpark von Brandys, fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Prag. Plötzlich stand ein alter, bürgerlich-behäbig wirkender Herr vor dem Mikrophon, redete von Sozialismus und sowjetischer Freundschaft. Die Leute fächelten sich Luft zu und drückten die Papierhelme, aus Blättern des Parteiorgans gefaltet, tiefer in die Stirn... Und dann horchten sie ein wenig auf. „Die Autorität der Sowjetunion ist besonders gewachsen, seit die Entstalinisierung durch den Genossen Nikita Sergej ewitsch vollzogen wurde...“ Der Festredner, Zdenek Fierlinger, Politbüromitglied und einstiger Sozialdemokrat, hatte das Tabu des Namens „Chruschtschow“ gerade noch gewahrt. Später, als die Lautsprecher wieder Schlager brüllten und die Leute beim Pilsner saßen, redete niemand mehr davon. Doch die Zeitungen, selbst die lokalen, übergingen am nächsten Tage die Rede...

Die Szene mag etwas von der seltsamen Atmosphäre wiedergeben, die ich allenthalben in der Tschechoslowakei antraf. Ganz äußerlich betrachtet, scheint man dort wenig Grund zur Klage zu haben; zumindest der „Mann auf der Straße“ neigt dazu, die Ruhe als erste Bürgerpflicht dem kritischen Aufbegehren vorzuziehen. Es geht ihm nicht besonders gut, aber auch nicht so schlecht, daß er heftigeres Nachdenken lohnend fände. Nur begrenzte, freilich wichtige Gruppen der Gesellschaft leisten sich diesen

„Luxus“ in zunehmendem Maße — zum Kummer der Staatsbürokratie Die Gärung.im Lande, vor der kaum jemand ahnt, wohin sie noch führen könnte, wird vor allem von der Jugend und von der Intelligenz, besonders aber — und am wirksamsten — von den jüngeren und klügeren unter den Parteileuten gefördert. Alle Reformen, die großen und die kleinen, werden von ihnen der Parteiführung abgerungen.

Kritik hinter Schreibtischen

„Einige Leute sitzen hinter den Schreibtischen und meinen, sie hätten nur das Recht zu beständiger negativer Kritik“, klagste Parteichef Novotny kürzlich, und sein strammer Mitstreiter Hendrych, den er jetzt wieder an Stelle des reformfreundlichen Koucky zum Chef der ideologischen Komimission beförderte, warnte vor „unkontrollierter Entwicklung“, vor „pathologischer Skepsis“ und vor den „verschiedenen trojanischen Pferden, die oft ganz offen in unser Land geschmuggelt werden“. Wie überall in Osteuropa, ist es der westücne Tourismus, der die kommunistische Ordnung, ihre Ideen und ihre Waren einer unberechenbaren Konkurrenz aussetzt. Die Modetorheiten, die dabei auch Einlaß finden, bieten den Dogmatikem willkommene Zielscheiben.

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