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Theater — Flucht aus der Zeit?

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Nach dem kurzlebigen Versuch mit Habecks Problemstück „Zwei und zwei sind vier", versucht die R e n a į s s ance- bühne den vollen Übergang zur sommer- leichten Spielzeit mit Sacha Guitrys „D e s i r &“ zu finden. Wir haben uns sagen lassen, daß diese Piece mit Guitry als Autor, Regisseur, Hauptdarsteller und Ensemblechef in Paris jenen Erfolg erzielte, der in der einmaligen Atmosphäre des Guitry- Theaters gedeiht, wie die berühmten Champignons in Paris in der feuchtdunklen Schwüle ihrer Weinkeller.

Nichts von alldem ist uns geblieben: ein erstaunlich langweiliges, langatmiges Stück (obwohl- es, die Pause abgerechnet, nur eine Stünde verdauert), brav gespielt. Als Ganzes: ein Dienstbotengespräch zwischen Ködiin, Stubenmädchen und dem Kammerdiener Desire, das illustriert wird durch einige Träume, zuerst der schönen Odette Clery und dann eben des besagten Desire... Ja, dazu kommt nodi ein Monolog eines Postministers, der von der Herrin Desires mit peinlich rührender Geduld umworben wird.

— Die Moral dieser gerade in ihrer Moralität unglaubwürdigen Geschichte: Kammerdiener, träumet von eurer Dienstherrin nicht! Sonst müßt ihr oder sie kündigen. Wenn nicht nach dem ersten, so doch nach dem zweiten Akt. Ende. Das spärliche Publikum verläßt den kahlen Saal — das unerbittliche Steigen - des eisernen Vorhangs deutet überzeugend den Schluß an.

Um zu Erfreulicherem überzugehen. Die österreichische Kulturvereinigung lädt zu einem „Romantischen Abend“ im Konzerthaus. Fred Lie- wehr liest Novalis, Lenau, Eichendorff, Goethe, Grimm. Martha Rohs singt Schumann, Hugo Wolf und Brahms. — Ein, guter Ein- und Zusammenklang! — Die blaue Blume der Romantik, in der Zusammenstellung der Lieder und Gedichte ganz dem Frühling zugeneigt, beugt sich in den goldgesäumten Sdiatten der Nacht. — Lie- wehrs Programm gipfelte in der Lesung des Grimmschen Märchens „Die Gänsemagd“. Betroffen und mir leisem Bedauern stellen wir fest: wie selten hören wir die tiefe Wahrheit unserer großen Märdien, vorgetragen von berufenem Munde. Wenn selbst unsere ersten Staatsbühnen sich zu Lach- kabaretts wandeln, beziehungsweise sorglos- somnambul in Traumwassern des Unverbindlichen segeln, dann bleibt eben die hohe Aufgabe zeitverpflichteter .Bühnenkunst — Wahrung der Menschenrechte und Warnung vor ihrer Zerstörung — den kleineren, kleinen und kleinsten Bühnen anvertraut. Vom tapferen Einsatz derselben berichten wir mit Freude, mit gebührendem Ernst m'nd, immer wieder, nidit ohne Schmerz: müssen es immer und überall in allen Bereichen des Lebens, die „Kleinen“ sein, welche Stimme und Gehör des Menschlichen einer Welt, die andere Dinge im Ohr hat, vortragen?

Dem „Lieben Augustin“ dieser traditionsältesten Kleinkunstbühne Wiens, blieb es Vorbehalten, Bert Brechts „Furcht und Elend des III. Reichs“ in einer durch August Rieger ausgewählten Szenenfolge zur österreichischen Uraufführung zu bringen. Auf den ersten Blick, bei oberflächlicher Beschauung, kann hier 'der Eindruck entstehen, es liege hier nur eine journalmäßige Reportage in Wort-, Bild- und Szenenpartikeln vor. „Die Stunde des Arbeiters“, „Der Spitzel“, „Die Berufskrankheit“, „Winterhilfe“, „Das Kreidekreuz“ usw. Momentaufnahmen aus dem Ton- und Farbband des Zwölf-Jahre-Films vom „Dritten Reich“, geschnitten aus den ersten Längen des immer schneller ablaufenden Sdiauerspielapparats. Die Appretierung für die Kleinkunstbühne mag diesen Eindruck teilweise noch verstärken. Nähere Zusicht verrät aber mehr: hier ist ein ganz neues Genre im Entstehen, eine Kunst der Selbstdarstellung, der Selbsteinfordtrung einer Zeit; obwohl diese Kunst seit 40 Jahren im Werden ist und in Brecht nur einen besonders markanten Vertreter gefunden hat, stecht sie noch immer in den Anfängen und ist trotz vielfacher Auseinandersetzungen noch nicht in das wachgewordene Erlebnisvermögen breiterer Kreise eingedrungen. Was bedeutet dies, wenn in erregender Sehschärfe — etwa in der Szenerie „Rechtsfindung“ — die Tragödie des Richters, der sich zum Sklaven verschiedener Machtherren erniedrigt, gestaltet oder in der Szene „Die jüdische Frau" das Versagen „bürgerlicher“ Anständigkeit aufgezeigt wird. Zunächst: wir werden hier mit einer unerbittlichen Härte eingefordert — jeder von uns —, konfrontiert mit unserem besseren und schlechteren Ich — an die Wand gestellt, vor dem eigenen Gewissen. Wer von uns darf sagen, daß er „unschuldig“, nicht mitschuldig ist? Selbst die „jüdische Frau“ muß sich, bei Brecht, in der Stunde letzter Gewissenserforschung ihre Mitschuld eingestehen ... Erschrocken, gereizt, erbittert, erregt, aufgescheucht — halten wir, das „Publikum", das sich als Mittäter und Mitspieler gezeigt sieht, inne. Hier nun die erste Begebenheit: ein offenkundiges Sichversagen des Publikums. Diesem aber entspricht in tragischer Weise ein Versagen des Autors, des Dichter-Chronisten. Wer derart offen die Wunde der Zeit aufzeigt, wer den Schrei schrill ausstößt, ihn wie eine helle Fahne des Aufstandes und der Empörung auf allen Zinnen seines Werkes hißt, der muß zumindest einen Weg zur Heilung, zur Lösung des Schreis anzeigen. Nicht um ein romantisierendes und mystisierendes Happy- End geht es hier. Der Chronist-Berichter wird aber erst ganz zum Dichter, wenn er Weiser, Weg weiser wird. Er muß Weiser, Deuter, Befreier der Menschen von ihrer Schuld werden! Das unerbittlich bloße Aufzeigen des Schuldgeschehens an sich schließt die Menschen nur noch stärker ein in ihre Angst-, Haß- und Ressentimentkomplexe, zwingt sie zum Einigeln in einer verzweifelten Selbstbehauptung. — Dies die letzte Brüchigkeit vieler Werke der modernen Kunst — sie 1st auch in Brechts großem Memorial, in diesem Werk der Erinnerung und des Gedächtnisses an Leid und Beklemmung unmittelbarer Vergangenheit, zu finden. Dennoch wollen, dürfen, können wir nicht verkennen: in Brecht — und er steht hier für viele moderne Künstler — stecht eine Sauberkeit, eine Askese, eine Enthaltsamkeit, von der viele unserer Wald- und Wiesenpoeten, unserer dithyrambisdien Hoch- und Großtöner lernen sollten.

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