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Tragödie der bürgerlichen Gesellschaft

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Gerhart H a u p t m a n n s_D r a m a „Vor Sonnenuntergang“ hat im Laufe der letzten Jahre manche Verwandlungen erlebt — seine zwiefache Wurzel wuchs in Zwei- und Mehrdeutigkeiten aus. Wir alle kennen den Inhalt: Geheimrat Clausen, ein großer Industrieherr und Mensch, will am Abend seines Lebens — „Vor Sonnenuntergang“ — ein junges Mädchen ehelichen. Seine Familie, seine erwachsenen Sprößlinge, hetzten ihn hierauf, da ihnen um sein Vermögen, das heißt um ihr Erbe, bangt, in den Tod. Aus der geschichtlichen Situation seiner Entstehungszeit und aus der persönlichen Situation Hauptmanns verknoten sich in diesem Schauspiel zwei große Motive: Da ist die vielumkämpfte Selbstherrlichkeit des Genies, des starken Mannes, des Künstlers, des großen Einsamen, der die Bande und Verpflichtungen der Gesellschaft durch seine Ehe sprengt oder von ihr erwürgt wird. Dieses Lieblingsthema Hauptmanns bestimmt die Grundmelodie und das Feuer dieses starken, aber zwieschlächtigen Stückes. Das Hirn, die materiale Logik, die Ex- ' Position und Expositur werden aber von jenem zweiten Fragenkreis bestimmt, der leider nur den jungen Hauptmann zu fesseln vermochte: Die Fragen um die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft, um ihre geistigen, seelischen und materiellen Grundlagen. Gerhart Hauptmann ist einen verhängnisvollen Weg gegangen, der nur zu vorbildhaft für das deutsche Dichterschicksal zwischen 1880 und 1940 werden sollte. Er, dem, wie er in den „Webern“ bewiesen hatte, Kraft und Begabung geschenkt war, die im Innersten wie im Äußersten gefährdete Position des deutschen Volkes, der deutschen Gesellschaft des Wilhelminismus und dann auch der Weimarer Republik aufzuzeigen, entwich ins Phantastisch-Eigenwillig«, Pseudomystische und Schetnreligiöse. Das deutsche Volk verlor dergestalt in seinen schwierigsten Jahren einen Anwalt, Prüfer und Richter einer soziologischgesellschaftlichen Neuformung. Die Proklamierung Hauptmanns zum Staatsdichter, zum Poeta laureatus der Weimarer Republik, war nur ein schwacher Versuch, ihn heimzuholen aus seinem Traumreich, in den Raum des neuen Staates, der aber nicht lebensfähig war, weil es soziologisch und ideologisch keine Gesellschaft gab, die ihn tragen und schirmen wollte. Ein Staat, dem die Dichter “und Denker sich verweigern, bleibt Fiktion der Nacht. Die gesamte Problematik und Schuld Gerhart Hauptmanns mit seiner Republik tpiegeltWsich min im Schicksal dieses seines Dramas. Was soll es nun sein? Tragödie des großen einzelnen, des kraftgenialen alten Mannes, oder Tragödie der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihren eigenen Gründer in den Tod jagt? Hauptmann ließ die Frage offen: Und siehe da, die Wiener werden sich daran erinnern: Da kam zuerst Jannings, auf der Bühne der Burg, und spielte mit Wucht und Dampf und Leibeskraft die ..Gesellschaft“ in Grund und Boden. Ein Koloß zerbricht alle Konventionen, zerknickt noch im Sturz, ein gefällter Urwaldriese, die schwächlichen Sprößlinge eigen-uneigener Artung. Dann kam das Dritte Reich: Der Film „Der Herrscher“ wurde zu einem seiner größten Propagandaerfolge. Raffiniert und sehr sicher wurde hier die politische Konsequenz des Hauptmannseben Dramas erspart (welche der Dichter selbst offen ließ) und im Sinne der neuen Ideologie ausgezogen und ausgewertet. Der Obermensch Hauptmanns, der große Kapitalist und Machtkerl wird nun zum schärfsten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, er schenkt seine Werke am Schluß des Films dem Staat, der neuen „Ge-sellschaft“. Hat „Die Insel“, welche nun Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ neu herausbringt, vor dem Schatten Jannings und dem des „Herrscher“-Films Angst gehabt? Wir wissen es nicht, fürchten es aber: Denn hier wird nun — 1947 — das große Spiel des großen Mannes wider die Gesellschaft seiner Zeit ganz ins Kleinbürgerlich-Individuale rückverwandelt, ins Persönlich-Allzupersönliche. Symbol einer Zeit, einer Zwischenzeit, welche gewiß nicht ohne Grund sowohl vor den „großen Männern“ wie vor den „großen Mächten“ Angst hat. Sehr sensible, sehr feine — allzu feine — Züge leiht Erich Ziegel dem Geheimrat, das junge Mädchen Inken Peters — Eva Zilcher — paßt leider wirklich nicht zu ihm, die Bettina jedoch erscheint Elisabeth Epp wirklich auf den Leib geschrieben. Eine sehenswerte Aufführung, ausgestattet mit viel Liebe und mit jener diskreten Kultur, die wir an der „Insel“ lieben — allerdings eben ein bißchen zu „inselhaft“: Weder die Tragödie des großen alten Mannes noch auch jene einer Epoche wird in dieser Darstellung aufgezeichnet.

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