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Faszinierendes Schauspiel

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Eine faszinierende Aufführung im Burgtheater: G. Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“, in der Regie Emst Lothars. Die Verfilmung, dann die „Neu-“ und Umarbeitung dieses Stücks im Dritten Reich, war kein Zufall: es handelt sich hier um ein Schlüsselstück, das die deutsche Gesellschaft zwischen Bismardc und 1914 rechtfertigt, richtet und aus den Angeln hebt. Grenze, viele Grenzen, eine gewisse Tragik und eine gewisse Größe. Dieses Drama steht für alle jene nicht- geschriebene Dramen, die um das Schicksal der großen Gründer, Unternehmer, Forscher und Gelehrten jener Epoche weben. — Daß erete Bühnenbild sagt bereits alles an: ein Salonkerker, dessen Gitter aus Büchern bestehen, die, ein engmaschiges, lückenloses Netz, bis zur hohen Decke aufschließen. Die große Glastüre in den Garten ist ein Scheintor, es führt kein Weg aus dieser monde clos in eine andere Welt. Zwei Büsten bilden, als Pole und Hausaltäre, das Kraftfeld dieser total immanenten Welt ab: Goethe und Marc Aurel. Beide sind Sinnbilder für Geheimrat Matthias Clausen, den Gründer der Reichs- werke GmbH (wie heute zu sagen wäre), der den Selbstmord wählt, weil ihm seine Familie nicht gestatten will, als mächtiger Grei6 ein neues Leben mit dem Mädchen Inken zu beginnen. Wohl versucht er das „Stirb und werde“ in einer ihm heiligen Nachfolge Goethes, es reicht aber nur bis zum Selbstmord, den Marc Aurel und die Stoa dem Weisen als Ausweg aus schmählicher Lage empfehlen.

Dieser große Gründer hat zwei Leben gelebt: eines für seine Industriewerke und Unternehmungen, für die „gute Gesellschaft“ auch, der seine elegante erste Frau als grande dame präsidierte, und ein anderes zweites Leben, das er selbst mit den Worten zeichnet: „Natur, Kunst, Philosophie — und Inken.“ Das junge Mädchen soil die vita nuova bringen, „das neue Leben“ im Reich der Kunst und des Geistes. — Warum gelingt dem Geheimrat die Flucht nicht, nach dem gegen ihn von seiner Familie eingeleiteten Entmündigungsverfahren, diese Flucht in die Schweiz, das Paradies jener Deutschen zwischen Wagner, Nietzsche, George und Wiechert, die dem Wahn und der Wirklichkeit des wilhelminischen zweiten oder Dritten Reiches entrinnen wollten? Die Flucht kann nicht gelingen, weil der Geheimrat auf dem Höhepunkt des Kampfes mit seiner Familie blitzartig erkennt (ohne es aussprechen zu können — das wäre bereits die Überwindung), daß er selbst unrettbar dem ersten Reich verhaftet ist: der bürgerliche Tod durch den „Verlust des bürgerlichen Namens“ infolge des Entmündigungsverfahrens zieht auch den zweiten Tod nach sich: das Reich des Geistes, dieses sehr welthaft gewordene Gottesreich der. deutsch- bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, be sitzt nicht die Kraft, den Geheimrat Clausen dem Terror seiner Familie und die Geheimräte und Professoren zwischen 1890 und 1945 dem Terror de6 „Staates und der herrschenden Mächte zu entreißen. Warum nicht? Weil dieses Reich der Kultur und des Geistes genau 60 immanent, 60 weltverfangen ist wie das „erete und „zweite Reich , ja, genau besehen, nur ein Teil von ihm ist. Ein besserer Teil, gewiß, aber eben Teil, nicht Überwindung. So stirbt nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, Geheimrat Clausen, 6ein eigener Herr, sein eigenes Leben, 6ein eigener Tod. Ohnmächtig neben ihm die junge Liebe und der alte Freund.

In von Akt zu Akt, von Szene zu Szene von der Regie klug und entschlossen gesteuerter Wucht ringt sich Werner Krauß als Geheimrat seinem Ende entgegen. Annemarie Düringer, diese große Begabung, auf die wir bereits bei ihrem ersten Auftreten in der Burg hinwiesen, ist als Mädchen Inken ihm gleich: ein Ich, verfangen und brennend in seinen ureigensten Flammen, allein in der Welt. — Sehr gute Besetzung der Rollen.

Auf kleiner Bühne eine bedeutende Leistung: nach „Gottes Utopia spielt das Theater am Park ring nun unter Erich Neubergs Leitung „Das Abgründige ln Herrn Gerstenberg“ von Axel von A m b e 6 6 er. Oberflächliche Beobachtung mag vermeinen, daß dieses Spiel mit Motiven nach Pirandello, Wilder und anderen (ähnliches sah man öfter in den letzten 20 Jahren) nicht zur düsteren Dramatik der „Utopia“ paßt. Was soll diese Tagesmär von Herrn Gerstenberg, dem Holzhändler, der nicht die verführerische Lotte (Büromöbel und Zubehör) heiratet, sondern das „uninteressante“ Lieschen (Vater: Kohlen, en gros und en detail), das doch den kleinen Abendschüler liebt? Dem Publikum wird der Anschluß an „Utopia“ leicht gemacht: Herr Gerstenberg kommt in dreifacher Gestalt auf die Bühne, begleitet jeweils von seinem guten und bösen Ich; der Mensch im Zwiespalt, im Kampf der Mächte also. Wichtig ist nun (nicht nur für das Verstehen dieses Stückes, sondern für unsere ganze heutige Weltschau): da6 „böse“ Ich ist nicht einfach ein Teufel, und das „gute“ Ich ist keineswegs ein Engel (sondern, wie hier gezeigt wird, leider sehr oft ein Ja-sager, ein hurtiger Verfertiger von Ideologien, zur Beschönigung der Taten der anderen …). Der Fall des Herrn Geretenberg, seine Fehlurteile, Fehlentscheidungen, Fehlverantwortungen, wie auch 6ein „gelungener“ Versuch, Moral und Geschäft, Güte und Berechnung, Trieb und Geist zu alliieren, spiegelt also in unserer Tageswelt dasselbe große Geschehen, in dem Priester und Leutnant in „Utopia scheitern.

Gespielt wird prächtig, alle müßten genannt werden; an der Spitze Brigitte Ratz, Franz Meßner, Peter Gerhard, mit ihnen: so am Programm genannt sind.

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