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Tschechische Bühnenkunst

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Die vergangene Wiener Theaterwoche brachte eine einzige „Neuaufführung” — die Reprise des Lustspiels „Das Kamel geht durch das Nadelöhr” von Frantfšek Langer im Akademietheater.

Das Publikum unterhält sich prächtig. Die Eis als Frau Peschta, Ferdinand -Maity- hofer als Flerr Peschta — das Gemisch von wienerischem und „böhmischem” Deutsch erzeugt eine brutzelnde warme Atmosphäre, wie jene Würstchen, die bei uns als „Frankfurter”, in der ganzen übrigen Welt als „Wiener” bekannt, bis in die Jahre des letzten Krieges die Straßen der Prager Altstadt und Kleinseite, wo sie auf offenem Rost gebraten wurden, mit ihrem lieblichen Duft erfüllten …

Kleines Spiel, ohne tiefere Bedeutung? — Vielleicht für andere, für viele — für uns gewiß nicht. Zuviel von unserer Geschichte, von einem gemeinsamen Leben, durch viele Geschlechter in leid- und freudvoller Erfahrung verbunden, west, durchbebt leise, eindringlich verhalten diese Szenenfolge von Unglück und Glück des „Kleinen Mannes”, der hier durch zwei tapfere Frauen ganz großartig vertreten wird. Generationen „böhmischer” Dienstmädchen, Köchinnen, Portiere, Postholer, Dorfmusikanten, kleiner subalterner Beamter und Bürger tauchen im Schicksal der Familie Peschta, im Schimmer tiefblickender Erinnerung vor uns auf, gehen in uns ein: ehdem oft verstört im Lärm und Schmerz eines grauen Alltags, jetzt verklärt zu leiser Wehmut.

„Volk des kleinen Mannes!” Jahrhundertelang schien dies Wort für das tschechische Volk zu gelten: als der böhmische Adel, die „Stände”, in der Schlacht am Weißen Berge 1620 niedergerungen waren, schien das Schicksal des Landes endgültig besiegelt: ohne eigene, eingeborene Oberschicht, „fremder Herren” Dienstbarkeit unterworfen … Gefährdendes Geschick — gefahrvolle Geschichte der „Herren-” und der „Diener”-Völker. Beider Versuchungen sind nicht von derselben Artung, aber von derselben Größe: Anmaßung, Dünkel, selbstsicherer Eigenwahn, Machthunger und Herrschgier steht auf den Stirnen jener Völker geschrieben, welche sich das Recht zur Herrschaft über andere anmaßen. Furcht, Ressentiment, Rebellion, Haß — und eine tiefe Verzweiflung ist in die Herzen jener eingegraben, welche der schwere Zeitlauf langer Jahre, ja Jahrhunderte zum „Dienen” bestimmt zu haben scheint. Der Sturm des Jan Hus, die Stürme des tschechischen Niedervolkes .von 1918 und 1945/46…: zu Ärgernis und Bitterkeit vertragenes Leid will sich im Leid der anderen austragen — zu einer halben Freude —, die doch kein gutes Gewissen, kein klares Gesicht gewinnen kann.

Diese Tatsachen der inneren Geschichte des tschechischen Volkes muß man kennen, wenn man den so eigentümlichen „Realismus” moderner tschechischer Kunst verstehen will. Ihr eignet, wie gerade auch die vor kurzem in Wien gezeigte Ausstellung jünger tschechischer Malerei und Graphik gezeigt hat, eine Sehschärfe und Ausdruckskraft, die in ihrer desillusionUrenden Kritik in ihren besten Werken an die Grundhaltung der großen Russen des 19. und 20. Jahrhunderts gemahnt.

Während es aber den Russen, mag es sich nun um Dostojewskij oder Gorkij handeln, um das große Ganze — Staat, Gesell- schaftį Menschheit — geht, um deren Evolution und Revolution, verwandelt sich bei den Tschechen das All ins. große Kleine: Tragödie und Komödie des Kleinbürgers — Himmel und Hölle nicht in der Brust eines „erniedrigten und beleidigten” Volkes, Heros, Propheten, Gottes- und Menschheitskämpfers, sondern eben irgendeines braven Soldaten Schwejk, eines Postoberoffizials, oder, eben wie bei Frantisek Langer: der alten Frau Peschta. Um die nahezu unerträgliche Spannung, -das Auslasten aller Gegensätze zwischen Macht und Ohnmacht, Recht und Unrecht, guter Gewalt und böser Gewalttat in der engen Stube ewigen\Eingehaustseins zu überwinden, werden die Raffinements des Westens — angelsächsische Ironie, französische Psychologie, deutscher Sentimentalismus — zu Hilfe gerufen. „Kleiner Mann, was nun?” Lache über dein gedrücktes Erdenlos, weine zumindest nicht, überwinde es durch Sarkasmus, Spott, Ironie, Witz — zumindest (jedoch laß es dir ja nicht anmerken, damit die anderen dir nicht auf die Spur kommen und dich zu Tode hetzen!) durch eine geheime Güte, ein zähgläubiges Ja zu eben diesem Leben, mit seinen schrecklichen Begnadigungen …

Damit stehen wir bereits mitten in der Innenwelt Langers.

Erster Akt: nahezu „Nachtasyl”-Atmo- sphäre. Aleksey Maksimowitsch Peschkow wählt den Dichter- und Decknamen „Gorkij” — „Der Bittere” …

Herr und Frau Peschta leben ehrsam vom unehrsamen Gewerbe — von der kunstvollen Lenkung des schlechten Gewissens der „guten Gesellschaft”, der „reichen Leute” — sprich: vom Wohltätigkeitsschwindel. Nur Susi soll und darf nichts davon erfahren … Susi ist die lebendige Erinnerung Frau Peschtas an die eipjtigen glücklichen Stunden eines in Arbeit, Not und Untertänigkeit früh vergilbten Lebens: einst, eines Abends vor der Teynkirche, hatte sie einen jungen galanten reichen Herrn getroffen… Nein — die Tochter soll es besser haben … Da steht aber schon der neue junge Herr vor der Tür, mitten im Zimmer. Das Mädchen verläßt mit ihm das Haus … Alle Arbeit, Anstrengung, Not scheint umsonst.

„Menschenwürde?” — Frau Peschta spricht: „Menschenwürde” — sie ist nichts für arme Leute —, obwohl ihr Mann seinerzeit, als er noch jung war und politische Versammlungen besuchte, oft davon sprach.

Bis nahe zu dieser Stelle hätte ein Russe das Stück geschrieben haben können. Dicht, unheimlich dichtgesponnen im Spiel zumal der Frau Eis, die Atmosphäre: Groteske, Tragikomödie eines ausweglosen Inneseins dieser „kleinen Leute”… Regelrecht östlich oder auch regelrecht westlich gibt es nun nur mehr entweder: Knall und Fall, Wahnsinn, Mord, Revolution, radikale Endlösung — oder: überspielen ins Ganz- Leichte und Seichte — Ulk, Scherz, Holly- wood-Happy-End. Der Tscheche aber sucht, ringt um den mittleren Weg: der kleinen Susi soll es tatsächlich „besser” gehen, sie soll ihr Glück finden, ihren Weg „machen”. Sie wird also den reichen jungen Mann heiraten — das Volk der kleinen Leute findet seinen Märchenprinzen, seinen irdischen Erlöser…

Nach Überwindung aller Schwierigkeiten von Akt zwei und drei ist es endlich so weit: weder Himmel noch Hölle, weder Milchhandlung noch uneheliche Herkunft, weder Industriemagnat noch proletarischer Stiefvater können das junge Paar mehr trennen … Das Kamel geht also doch durch das Nadelöhr — der tausendjährige hussitische und utraquistische Traum von der Herabkunft des Reich Gottes in Böhmen wird Wirklichkeit: in einer angesehenen gesellschaftlichen („nationalen” und „internationalen”) Stellung des Volkes der kleinen Leute… Wirtschaft, Handel, Wohlfahrt blühen …: in der Fusion der Familien Peschta (— Habenichts) und Velim (en gros, en detail).

Happy-End; jawohl. Also doch „Verrat” an den „Westen” — Preisgabe des „Ostens”? Nein. Denn die kleine Susi, Frau Susi nimmt in ihr neues Leben voll und ganz das alte — die Vergangenheit — mit herein. Verkörpert in ihrer Mutter: in deren ordinär-offenen Redensarten und Manieren wird jede Bewegung ihrer Augen und ihres Herzens, jede Handreichung, welche sie der Tochter leistet, von der überwundenen — aber nicht aufgehobenen — Bitterkeit des früheren Da-Seins sprechen: von der unerbittlichen Härte und Grausamkeit eines Lebens, welches ausweglos eingekerkert schien, weil der Schlüssel der Liebe fehlte.

Dunkle Größe Böhmens, leidschwerer Mutterschoß zweier Welten.

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