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Ursprung und Zukunft des Bolschewismus

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Ein deutscher Romanschriftsteller deutet Ursprung und Zukunft des Bolschewismus. Es hat sich so gefügt, daß ich den weltberühmten Dr. Juri Andreje-witsch Schiwago und den bisher erst wenig bekannten Leutnant Nikolai Iwanowitsch Schönig fast gleichzeitig kennenlernte. Seit Monaten verkehre ich nun mit diesen beiden Russen, und wenn ich wieder gerade einmal den dicken Band Pasternaks beiseitegelegt habe, weil mich die Odyssee seines Helden zwar packt, aber auch ermüdet, dann steht gleich Schirmbecks blasser, gequält lächelnder Verschwörer in der zaristischen Offiziersuniform vor mir, um mir die Fäden zu zeigen, an denen „Juroschka“ und seine durch die große Revolution unseres Jahrhunderts gehetzten Landsleute eigentlich hängen. Hören Sie nur zu, was diese Zentralfigur des neuen Romans von Heinrich Schirmbeck im liberalen Revolutionsjahr 1848 für sein Volk prophezeit:

„Wir werden vom Westen nehmen, wessen wir bedürfen: den Geist der rationalen Wissenschaft, und wir werden vom Osten nehmen, was uns frommt: den Geist der Brüderlichkeit und der Menschenliebe, und wir werden beides zu einem Teig verkneten, der eines Tages wie ein feuriger Sauerteig die ganze Welt entzünden und verwandeln wird. . . Wir werden uns auch nicht scheuen, das Böse vom Westen anzunehmen, die Mechanik, die Maschinen, das Kapital, die Entseelung des Himmels und der Erde, die Prostitution vor der Zahl, den Frevel an der Natur, die Spaltung von Freiheit und Liebe, die Verdinglichung der lebendigen, vom Schöpfer geliebten Kreatur im Dienste der Macht und des Geldes, wir werden alle diese Geschenke an unsere Brust nehmen und sie zu einem Monstrum ausbrüten, daß sie ihre eigenen Gaben nicht wiedererkennen sollen. Sie sollen glauben, in die Züge des Amichvst zu blicken, obwohl es ihre geistigen Züge sein werden, die ihnen entgegengrinsen.“

Er ist ein Grübler, dieser Scnönig, Hamlet am Hofe von Petersburg, einer, der Tyrannenmörder sein wollte, als einer der Führer der „Deklaristenbewe-gung“ von 1825 galt, aber kurz vor dem Stichtag sich von der Verschwörung liberaler Gardeoffiziere abwendet, weil ihn ein geistiges Erlebnis zutiefst erschüttert hat: durch Korrespondenz ist er mit dem selbst in der eigenen Heimat noch unbekannten Begründer der nichteuklidischen Geometrie, Lobatschewski, in Verbindung getreten. Seither muß er sich von der rationaleuklidisch fundierten Freiheit, wie sie seine Mitverschworenen verstehen, abwenden, um sein Handeln auf die „anderen Dimensionen“ der zwar außerhalb unserer Erfahrungswelt liegenden, aber denkbaren nichteuklidischen Welten einzurichten.

Welche „Dimensionen“ denn das seien, verlangt Professor Pestel, gleichfalls Mathematiker und einer der geistigen Führer des Aufstandes, zu wissen, und erhält die Antwort:

„Dimensionen etwa, die Christus unserem Handeln vorgelebt hat. Sein Leben war, um es in einem geometrischen Gleichnis auszudrücken, das unerreichbare Leben in den Dimensionen der euklidischen und der nichteuklidischen Anschauungsform. Er schritt mit den Füßen in den euklidischen Regionen, während sein Haupt in die Sphären der nichteuklidischen Räume tauchte. Beide zusammen erst ergeben die wahre Freiheit.“

Für seinen „Verrat“ an den Dekabristen vom neuen, den Sinn seiner Wandlung verkennenden Zaren belohntbricht Schönig später aus dem Gefängnis einer mißverstandenen Staatstreue wieder aus, wird Rebellenführer im Kaukasus, stellt sich seinem Zaren als Deserteur und tritt mit vielen Verbannten den Weg nach Sibirien an. Wohl ahnt er das Kommen einer aus der Vernunft geborenen Tyrannei, aber zugleich meint er zu wissen, daß sein Volk auch diese Phase überwinden werde:

„Die russische Freiheit wird das Gesicht des Evangeliums tragen. Aber wenn nicht alles trügt, wird sie zunächst Christus verleugnen, ja bekämpfen müssen, um sich verwirklichen zu können. Denn der Name Christi ist zu lange für die Freiheit der Mächtigen und Bevorrechteten gebraucht worden, als daß er noch ein Symbol für die Revolution sein könnte. Christus selbst wird das verzeihen, denn das scheint mir das wahrhaft Paradoxe der kommenden Entwicklung zu sein, daß das Reich Christi. . . nur gegen Christus verwirklicht werden kann. Auch Gott war einen Augenblick im Aufstand gegen sich selbst; Gott war einen Augenblick lang Atheist. . . Wenn in dieser Paradoxie das Geheimnis Christi verborgen liegt, dann ist es um so weniger absurd, daß die Leugner des Heilands Sein Reich heraufführen werden, das Reich der Freiheit im Dienst der Nächstenliebe.“

Sind sie nicht vielleicht Brüder, der „Doktor Schi-wago“, der die Gedichte „Hamlet“ und „Gethsemane“ zurückläßt, und dieser „Leutnant Nikolai“? Was Pasternak nur angedeutet hat, spricht Schirmbeck aus. Das- macht sein Buch großartiger, oft erregender als den Weltbestseller dieses Herbstes, denn es weist in einer Welt der scheinbar unerschütterlichen (euklidischen) politischen Wirklichkeiten auf die möglichen anderen Welten hin, die vorerst nur geistig bestehen, aber einmal Realität werden könnten, wenn die gegenwärtigen Parameter, aus denen wir das Parallelogramm der schicksalsträchtigen Kräfte errechnen, sich nur ein wenig ändern sollten. Ein neues Werk des vielleicht begabtesten jungen deutschen Romanciers, das, zusammen mit dem Werke des Nobelpreisträgers gelesen, im Lesenden geistige Funken sprühen läßt, in deren Licht er die Landschaft der Zukunft zu ahnen meint.

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