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VON NEUEN BUCHERN

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„Mein Vater“ — Ein Erinnerungsbuch an Felix Timmermans. Von lia Timmermans. Mit 16 Bildern. Berechtigte Übertragung aus dem Flämischen von Karl Jacobs.

Insel-Verlag, Wiesbaden 1952 •

Ale wir an jenem trübkalten Wintertag des Jahres 1947 vom Lierer Friedhof, wo wir den flämischen Malerpoeten und Volkserzähler Felix Timmermans zur Ruhe betteten, in die Stadt zurückgekehrt waren und des teuren Verstorbenen gedachten, fragten wir uns, wer nun wohl der rechte Mann sei, ihm ein würdiges Denkmal zu setzen. Wir waren uns darüber einig, daß keiner von den zünftigen Literaten dazu berufen wäre. Es müßte vielmehr einer aus dem unverbildeten Volke diesen Auftrag übernehmen, meinten wir, einer von denen, die ihm nahestanden, die seine einzigartige Menschen- und Milieuschilderung, seinen Humor und seine saftige Sprache zu würdigen wußten, weil siie sich selbst in seinen Büchern wie in einem Spiegel erkannten. Und einer sprach aus, was wir alle dachten: Die einfachen „Leute von der Straße“ müßten irgendwie daran beteiligt sein, die Arbeiter und Bauern und Aalfischer aus dem Netheland, die Armen, die Bettler, die Stromer, die' heute an seinem Grab gestanden waren, da geweilt und für ihn gebetet hatten. Der Bauer Wurzel mit seinem schlichten Glauben; der Muschelhändler und der Krabbenkocher; Kreuzdeut, der Krämer mit seinem Bauchladen voll buntem Flitterzeug, der da einmal sagt: Ich weiß nicht, aber wenn ich durch den Regen gehe, werde ich immer ein bißchen traurig, und dann bin ich immer froh, daß ich traurig bin; Schrobberbeek und Suske- wiet (aus dem Triptychon von den Heiligen Drei Königen), denen wir heute, wie uns scheinen wollte, mehrfach hier begegnet waren. Und schließlich auch die flämischen Volksmaler Pieter Bruegel und Adriaan Brouwer und der Besten einer, sein stiller Bruder in Christo Franziskus Sie alle, seine Geisteskinder und seine Verwandten im Geiste, sollten für ihn zeugen, für seinen Genius und für seine schöne Menschlichkeit.

Fünf Jahre nach seinem Tode erschien nun die volkstümliche Lebensgeschichte des großen Flamen, wie wir sie damals ersehnten und verstanden wissen wollten. Der Insel-Verlag brachte sie bereits in deutscher Übertragung und in einer hübschen Ausstattung mit 16 Bildern aus dem Leben des Schriftstellers. Geschrieben hat sie eine flämische Frau, die ihm sehr nahe stand: seine eigene Tochter Lia Timmermans. Sie durfte ihren Vater bei seinen Spaziergängen durch Lier begleiten, wo er an Ecken und Brücken, auf den Feldern und am Nethestrom „seine Leute“ begrüßte und ins Gespräch zog, ihnen nicht nur aufs Maul, sondern bis auf den Grund ihres Herzens blickte. Mit ihr besuchte er, der ein tätiger Christ war, oft die Hilfe- und Trostbedürftigen im Lierer Spital, in Armen- und Krankenhäusern. „Für den Menschen in seinen Spielarten hat er sich stets interessiert", schreibt die Tochter. „Vor allem hat er aufmerksam nach dem Gemütsklang derer gelauscht, die unbeeinflußt von Bildung und Konvention geblieben waren, die sich unverfälscht erhalten hatten und der Natur nahe waren. Er liebte Gestalten, die mit kindlichem Gemüt, einfältigem Glauben, schlichtem Flerzen und gesundem Menschenverstand durchs Leben gingen." Weil Lia Timmermans sie alle kannte und im Geiste vor sich sah, kann man

ruhig sagen, daß sie allesamt bei der Geburt dieses Werkes Pate gestanden haben.

Der erste Teil bringt die meist heiteren Lebenserinnerungen des Erzählers Timmer- mahs, wie sie vielen seiner Freunde aus seinen persönlichen Vorlesungen noch bekannt sein dürften. Dann aber nimmt die Tochter selbst das Wort und berichtet Wichtiges über die Entstehung der zahlreichen Werke, von dem berühmten Pallieter, nach schwerer Erkrankung aus einem mächtigen Lebenswillen geboren, bis zu den stillen Gedichten des „Adagio“, die er auf seinem letzten Krankenbett schrieb, als er, noch nicht 60 Jahre alt, zum Sterben bereit war. „Ich habe gerne gelebt, ich werde auch gerne sterben.“ Die letzte Notiz zu einem werdenden Gedicht lautete: „Geh du beiseite, und Gott tritt ein.“ Zwischen diesen beiden bedeutenden Werken, dem von Leben strotzenden Pallieter und dem resignierten Adagio, liegt eine bedeutende Dichterkarriere und ein erfreuliches Lebenswerk. Darüber hinaus lernen wir den Menschen kennen, einen Menschen im besten Sinne des Wortes, den treuen Gatten und unvergleichlichen Familienvater, den Freund aller Armen und Bedrängten, den frommen Christen.

Besonders schön gelang der Verfasserin das aufschlußreiche Kapitel, welches „Besuch bei der Tante Nonne“ überschrieben ist. Jedes Jahr einmal zog die Familie hinaus in die Kempen, um die einfältige Tante-Nonne, Schwester Aloisa, zu besuchen. Eines Tages ward dann ihr fünfzigjähriges Klosterjubiläum gefeiert. Es gab ein Festmahl, die gute Aloisa aber beteiligte sich nicht daran, da sie um keinen Preis ihre Klausur verlassen wollte. Anläßlich dieser Feier malte Timmermans ein rührendes Bild, davon das Buch einen Abdruck enthält. Noch in der gleichen Nacht starb Schwester Aloisa. Vor Rührung und vor Glück, sagte die Mutter Oberin. Das Begräbnis hat uns Timmermans selbst in frohlockenden Worten geschildert:

„Es war, als ob das Fest weiterginge. Die Kapelle voller Blumen, das Land goldgesprenkelt vom letzten Ginster, und der kleine Leichenzug schritt wie ein Triumphzug hindurch. Die Fahnen, die die Meßdiener trugen, wehten gegen einen festlich blauen Himmel. Und dann das herrliche ,1m Paradisum'. Es war ein Tag der Freude und des Jubels. Sie, so schlicht, wie ein Mensch nur sein kann, hat Leben und Welt überwunden. Sie wird im Triumph in den Himmel getragen .. .

So, sinnt der Leser, in dieser duftigen, sommerlich-heiteren Sphäre, hätte auch die Himmelfahrt des ewigen Pallieter Felix Timmermans stattfinden sollen. Es war aber ein dunkler, schwermütiger Wintertag damals, und über der Feier lagen die Schatten einer schlimmen, dem Dichter übelwollenden Zeitenwende, welche auch seinen Lebensabend getrübt hatten. Trotzdem hegt jeder, der den Dichter kannte, die unerschütterliche Überzeugung, die Lia Timmermans in den Worten kundgibt: „Als man für ihn das ,In Paradisum' sang, da war das gewiß auch ein Triumph.“

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