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Digital In Arbeit

Warten, bis die Seele ankommt

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Zum Innehalten in einer von vollen Terminkalendern geprägten Welt will dieses Dossier einladen. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

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Zum Innehalten in einer von vollen Terminkalendern geprägten Welt will dieses Dossier einladen. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

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Jeder von uns hat im Laufe seines Tages manchmal die Sehnsucht, irgendwo zu sein, wo es kein Telefon gibt, keinen Kalender, der einen zum nächsten Termin treibt und keine Menschen, die man anlächeln und anhören muß. Je nach Phantasie und persönlichen Bedürfnissen sehnt man sich nach einem Südseestrand mit im Winde sich wiegenden Palmen und blauem Meer, oder einer Almwiese mit grünem Gras und blauen Kühen, oder einer Klosterzelle, in der leise ein gregorianischer Choral verklingt...

Wenn jemand einmal das Gewissen als den Ort definiert hat, wo Gott, Welt und Mensch ankommen, so muß man heute sagen, daß vielleicht gerade deshalb so viele Menschen als gewissenlos erscheinen, weil diese Koordinaten eines bewußten Lebens heute gar keine Chance mehr haben, in der Personmitte eines Menschen anzukommen. Es geht uns eher wie dem Indianer, der sich vor 100 Jahren einem der damals neuen Massenverkehrsmittel, das munter durch die Prärie geschnauft ist, anvertrauen mußte und der dann am Ziel leicht überfordert feststellen mußte, daß er zuerst einmal warten müsse, bis die Warten, bis die Seele ankommt, ist ein Bedürfnis, das heute viele Menschen in sich verspüren. Denn das moderne Leben mit seinen sich ständig technisch vervollkommnenden Medien, seinen Kommunikationsmitteln und den Fahrzeugen, die einen immer schneller von einem Eindruck zum nächsten führen - es sei denn man steckt im Stau; dabei kann man dann ja Tonbänder mit Informationen abspielen, man hat dann das Radio, das einen über diesen und die anderen Staus informiert, und ist mit dem Handy ständig (Gott sei es geklagt!) doch stets erreichbar - überfordert uns alltäglich völlig.

Letztlich haben wir, falls wir darüber je nachdenken können, den Eindruck, daß wir nie leben, sondern wir sam-

Redaktionelle Gestaltung: Heiner Boberski drücke für einen immer größer werdenden Berg unbewältigter Vergangenheit und planen - mittels Terminkalender-unsere Zukunft so, daß die anfallende, ungeplante Gegenwart kaum eine Chance findet, anzukommen.

Eines meiner diesbezüglichen Schlüsselerlebnisse hatte ich vor etwa zwe,i Jahrzehnten, wo ich in einem buddhistischen Tempel in Java herumkletterte, um Dias zu schießen. Ich mußte - um den anderen lästigen Touristen zu entkommen - immer dort fotografieren, wo der Führer gerade nicht erklärte. So schoß ich eine Menge Fotos von etwas, von dem ich nicht wußte, was es war; ich rahmte die Dias und sah sie mir nie wieder an, denn das andächtige Anschauen von Urlaubsdias tötet dann auch noch die wenigen freundschaftlichen Unterhaltungen, die man sich in seinen Terminkalender einplanen kann.

Seitdem mache ich keine Dias mehr, nur einige Farbbilder. Und ich nehme mir die Zeit, das, was ich früher eingehend fotografiert und dokumentiert hätte, einmal anzuschauen - was wieder diejenigen Reisenden stört, die das alles zeit- und motivgerecht aufs Video bannen möchten! Daher ist es verständlich, daß heute jedes katholische Bildungshaus und jede andere Volksbildungseinrichden anbietet, wo Menschen drei Blüten und zwei Gräser so stecken lernen, daß sie das Gefühl einer Wiese haben, oder wo sie so atmen lernen, daß sie vor dem endgültigen Ersticken die Luftaufnahme als etwas Befreiendes erfahren, wo sie ihre Füße so ineinander verschlingen, daß sie dann, wenn sie alles, was eingeschlafen ist, wieder aufgeweckt haben, den aufrechten Gang als etwas zutiefst Einmaliges wahrnehmen.

Doch ätzenden Spott beiseite: Man greift heute in zunehmendem Maße nach allem, was einem ein wenig Ver-tiefung und Besinnung verspricht: nach östlichen Meditationsmethoden, nach westlichen tiefenpsychologischen Ansätzen, nach Musik, Tanz und Bildern, nach Tun und Lassen, nach Reden und Schweigen, nach bewußtem Ein- und Ausatmen und so weiter. Und je teurer, umso besser muß es ja sein. Auch in diesem Bereich glaubt man, daß man Werden machen und Sein erkaufen könne.

Denn die meisten von uns wissen um viele Defizite: wir möchten das eigene Ich finden - Erlebtes verarbeiten, vertiefen, ausklingen lassen - Gekommen lassen - wir möchten die Seele baumeln lassen - wir wollen Urlaub vom Streß - und haben Sehnsucht nach uns und nach anderen -und letztlich nach Gott.

Dazu gibt es einen bewegenden Bericht vom müden und ausgebrannten Propheten Elija, dem der Herr am Berg Horeb begegnet:

„Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.

(Martin Buber übersetzt: „die Stimme eines verschwebenden Schweigens”!)

Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief: „Was willst du hier, Elija?” (1 Kön 19,11-13)

Nur dort, wo wir diese Frage hören können, ist es uns letztlich möglich, aufzutanken. Und ich brauche meist jemanden, mit dem ich darüber auch sprechen kann...

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