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Ach, diese liete, gute Hausfliege Isabella...

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Die Geschichte unserer Hausfliege Isabella wäre beinahe traurig ausgegangen, wie das Leben so vieler anderer namenloser Fliegen. Isabella war schon lange Zeit bei uns — jahrelang. Vielleicht war sie auch nur jedes Jahr eine ihrer Nachfahren —, aber das merkten wir nicht. Sie war unserem Hause getreu, und niemand kam auf die Idee, sie zu fangen und zu töten. Das wäre uns wie ein Mord vorgekommen. Vielleicht waren wir auch etwas abergläubisch: wer weiß, ob das Glück unseres Hauses nicht von ihrer alljährlichen Ueberwinterung bei uns abhing. Das Schicksal ernährt sich oft von Kleinigkeiten, und die Treue des Glücks kann auf einem Fliegenflügel sitzen. — Jedenfalls kam und blieb Isabella, und niemand nahm sie weiter wichtig. Sie gehörte zum alltäglichen Hause. Eines Tages aber sah ich ihr zu, wie sie am Fenster in der Dezembersonne auf- und abflog. Sie mühte sich schrecklich in ihrem Geviert ab, und es war, als suche sie einen Fluchtweg. Nun war es doch Winter und draußen für die Fliegen viel zu kalt — sie wäre elend umgekommen. Aber ich konnte mich nicht entschließen, ihr einen Spalt in die gesuchte, aber tötende Freiheit zu öffnen. Ich beobachtete sie, wie sie bald langsam am Sei- teriholz des Fensterrahmens auf- und ablief: behutsam jeden Millimeter abschreitend, ob nicht da endlich eine Lücke, ein Loch im Fensterglas sei. Aber das Fenster war glatt und blank wie eine Eisbahn, durchsichtig — draußen war Sonne und andere Luft als im warmen Zimmer. Es muß ja schrecklich sein, dachte ich, wenn man die andere Seite, die Sonnenseite sieht, ganz deutlich und eindringlich sogar deren Strahlen auf seinem Flügel spürt und — doch nicht weiß, wie man hinausgelangen könnte. Es ist eine Fensterscheibe wie ein grausamstes Gefängnis, eine Verhöhnung der lockenden Freiheit. Man sieht und spürt wie es auch anderes Leben gibt als das jetzige, daß es andere Räume gibt als die gewärmten Stuben jahrelanger Treue. Die Fliege Isabella sah und spürte und wünschte das andere, als sie besaß. Und darum wurde sie anscheinend ungeduldig. Sie raste und schwirrte im Kreise auf der Fensterscheibe entlang wie eine gewandte Eiskunstläuferin — um dann wieder das nahezu systematische Abschreiten der -Fen- sterscheibe kreUZ und quer und auf und ab zu unternehmen. —‘ Da habe ich danfrisėlbstlds und wie ein unvernünftiger Fanatiker der Freiheit das Fenster einen Spalt geöffnet: warum sollte unsere Hausfliege Isabella nur um unseres undeutlichen Glückes willen eingesperrt bleiben: Isabella sollte wenigstens eine Erfahrung mit der Freiheit, mit dem anderen, mit dem Winter und der Sonne machen. Da geschah etwas sehr einfaches: Isabella surrte und sauste zunächst auf der Fensterscheibe wie irr umher und verschwand plötzlich von der Scheibe, um ganz drinnen im Zimmer sich auf die Stehlampe neben dem Ofen zu setzen und die Flügel zu putzen. Kopfschüttelnd schloß ich das Fenster: also nichtl — sagte ich laut und vergaß Isabella wieder.

Das heißt, ich vermeinte, Isabella, die Haus- fliege, zu vergessen. Aber eines Nachts, als ich nicht schlafen konnte, weil irgend etwas in der Luft lag, das mich lockte und rief, fiel mir Isabella wieder ein: es ging mir ja genau so wie ihr. Da war etwas, das mich lockte und — ich kam nicht hin. Ja, ich wußte nicht einmal, was mich aus meiner Ruhe verlocken wollte. Meine Sinne durchstöberte ich — wie Isabella das glatte Fenster: In ihnen fand ich keine Sehnsucht und keine Krankheit. Sie waren friedliche Trabanten„ die genug zu essen hatten und kein überflüssiges Material herbeibrachten. Suchte mein Verstand sich an einer Frage zu erproben? Wollte er etwas zerlegen oder Vielfältiges zusammenfügen zum Bild der Wirklichkeit in meiner ‘ Seele? Oder war meines Willens Werkkraft zu wenig angespannt, so daß sie Berge versetzen wollte? Revolutionen anstrengen odjr die Welt verbessern? Es plagte mich nichts von alldem. Und doch war etwas da, das mich nicht schlafen ließ: nicht meine Sinne, nicht meine Seele - mich nicht. Alles was ich lebte und liebte und lobte, war da und war drinnen. — Der nächste Tag war wie ein offener Spalt des Fensters: mein suchendes und doch zufriedenes Leben auf der Fensterscheibe meiner Tage und Wohnung erhielt einen neuen Luftzug — so wie er damals um die Flügel unserer Hausfliege Isabella geweht haben mußte, als ich ihr das Fenster zur Freiheit geöffnet hatte. Der Luftzug war etwas anderes als die gewohnte Luft — ganz anders als das Bisherige meines Lebens. Es trat etwas ins Zimmer, wovon ich keine Erfahrung hatte, das abeT trotzdem lockte. Oder versuchte es mich, weil ich keine Erfahrung von dem Neuen be-

saß? — Aber es geschah mir, wie der Fliege Isabella: ich floh ins Alte der gewohnten Sicherheit zurück und ließ das Fenster sich wieder schließen, wie es eine fremde Hand geöffnet hatte. Ich blieb, wo ich war.

Später muß mir dies Erlebnis nochmals gekommen sein, denn ich bin nun „draußen". Ich erinnere mich aber gar nicht, wann und wie diese Entwöhnung geschah: ich kann weder Tag noch Stunde angeben, da ich durch ein seltsam geöffnetes Fenster in meiner Sicherheit gestört worden, hinausgeflogen war. Ich merkte es erst, als alles Alte um mich nicht mehr existierte und ich mich in Neuem eingerichtet hatte. Was das Neue war? Es war genau das, was mich hinderte, in meiner Gewohnheit schicksallos weiterzudämmern. Das Neue — es geschah dem gleichen Menschen, es geschah mir und wurde von mir gelebt — es war die gleiche Welt, in der ich gelebt hatte es war gleiches Amt, das ich erfüllte, und es waren die gleichen Ideen, Ideale und Prinzipien, um die ich mich bemühte — — aber ich war nicht mehr darin gebunden. Die Schulzeit war zu Ende. Das Allgemeinwesen Ich war gestorben.

Es muß eine Zeit geben, da der Mensch sich emanzipiert: er muß sich aus der Hand des gewohnten und des vermassenden Menschseins herausnehmen und befreien. Er muß das Allgemeinschicksal brechen und muß aus dem Vielfältigen des Gelernten heraussteigen, damit das Gelernthaben einen Sinn bekommt: ein einzelnes Schicksal zu haben. Einsam zu werden ist das Schicksal dessen, der dem Allgemeinmenschen und dessen schicksallosem Dasein entronnen ist. Jetzt gilt es nur noch, allem Bisherigen hinzuzufügen, was das Schwerste, aber Bedeutendste ist: zu leben, zu lieben und zu beten. Vielleicht meinen alle Lernenden und Anfänger, dies alles schon zu können. Und in dieser Meinung liegt eine gemeine Allgemeinheit: die Vermassung. Aber daraufgekommen zu sein, daß keiner das Leben und die Liebe und das Beten kann - das ist Gnade. Das ist das wirkliche und gemeinte Leben, das ist die Liebe zum Leben und lebendige Liebe, das ist Beten um des Gottes willen, wenn wir nur noch diesem nachspüren, was wir eben noch nicht und nie genug können: Leben, Lieben, Beten! Daraus erst yrird der Mensch, wie er sein soll: nicl t mehr gewohntes

Vegetieren mit dem Leben zu verwechseln. Das ist die Würde des Menschen, daß er nicht mehr um sich selbst herum gebetförmige Worte wirrt, sondern den Gott erreicht, der alles für sich selbst haben will.

Wir sind doch alle an verwöhnende und verdummende Möbelierungen unseres Lebens gefesselt. Wir haben allgemein-gültige Ideen und Ideale. Wir haben Verkehrsformen miteinander, die zwar gültig sind, aber allen allgemein-gültig. Wir haben Gebete für und um uns selbst, die jeden und keinen Gott erreichen können — von Gott losgelöste Formen und Formeln allgemeinnützlicher Frömmigkeit. Man muß erst daraufkommen, was von diesem Allgemeinen befreit. Man muß eine Stunde der Erweckung haben, in der das Individuum eine Person wird und aus dem Allein-Menschen ein Einsamer. Und dies eben heißt: den dreięinen Klang von Leben, Lieben und Beten einmal gehört zu haben und von ihm zerrissen worden zu sein.

Aber wer zupft die Zither, wer spielt die Geige, wer singt den Ton, der uns löst zu Erlösung von allem Uebel Amen? Wer gibt dem schicksallosen Allgemeinmenschen das Schicksal des Einsamen so, daß man gehorchen muß? Wer öffnet der jahrelangen Hausfliege das Fenster, daß sie ihre neue Freiheit begreift, aufnimmt und dennoch nicht das Glück aus dem gewohnten jahrelangen Hause fortträgt? — Für den natürlichen Menschen der Natur ist es die Frau. Jenes Wesen, dessen Gnade, wie Claudel sagt, darin besteht, daß sie ein Versprechen ist, das nicht gehalten werden kann. Jenes Wesen Frau, das seine Ferne uns lehrt, um uns in die Ferne des Ganz-Anderen zu entführen — deren Verführung es ist, uns nicht an sich oder an uns selbst zu binden, sondern im Versagen, uns das Losungswort der Ewigkeit zu sagen: Leben, Liebe, Gott. — Für den religiösen Menschen ist es Gott selbst, der in uns einschlägt wie ein zerschlagender Blitz, um uns zu entflammen. Das tut er manchmal m i t Zwischenhändlern (die meistens sich ihrer Sendung gar nicht bewußt sind). Manchmal tut er es allein und ohne äußeren Anlaß. Aber jedesmal ist das geöffnete Fenster eine gekonnte Befreiung und diese eine geschenkte, übernommene Erlösung. Ob mit Anlaß, ob ohne Anlaß: an der Einsamkeit kann der Mensch seine Freiheit und Erlösung vom Allgemeinen in das besondere Schicksal erfahren. Und er frfährt, daß ohne Einsamkeit der Mensch eigentlich schicksallos in der Masse verblieben wäre. Und er erfährt, daß in der Einsamkeit sein Schicksal Leben, Liebe und Gott gibt für die ;vielep,; die keines %ahfnj.įj£įįf;" dįgj', heißt auch hier: anstatt, anstelle, zum Schutze,

zur Verteidigung, zur Vergeltung — so sehr „für" alle anderen, die ohne Einsamkeit leben, lieben und beten.

Unsere Hausfliege Isabella ist damals ins warme Zimmer zurückgekehrt und hat sich auf den warmen Lampenschirm gesetzt: ihre Stunde war noch nicht da — oder sie hatte keine Stunde. (Vielleicht haben Hausfliegen überhaupt niemals solche Stunden und Gnaden!) Aber wir Mitbewohner der Fliegen, wir Menschen, wir allzu- vielen Ichs in Gewohnheiten möblierter Stuben — für uns alle gibt es eine solche Stunde. Warum wir sie nicht kennen und können, weiß ich nicht. Wenn wir sie kannten und könnten — dann war es ohne unsere bewußte Entscheidung: wir leben, lieben und beten anders und sind für die Allgemeinheit da: um für sie zu leben, zu lieben und zu beten: an ihrer Stelle, zu ihrem Schutze, zu ihrer Verteidigung.

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