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WASSER UND FEUER

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Es schlug eins und es war verhältnismäßig ruhig. Uber die Autodächer hinweg wies der überlebensgroße Held auf dem marmornen Sockel mit dem patinierten Schwert gegen Süden. Die Sonne lag in farbigem Fieber über dem Lack des Parkplatzes.

„Fad“, sagte der Rothaarige und ließ den Mercedesstern zum drittenmal zurückschnellen.

„Keine Ausdauer“, flüsterte plötzlich ein Schwarzhaariger neben ihm. Der Rothaarige erschrak nicht im mindesten. „Harry!“ rief er leise und grüßte mit den Mundwinkeln. Sie gingen zusammen weiter und trommelten mit den Fingern über das Blech. Es war heiß und staubig. Harry drehte einen Rückspiegel herum und der Rote zeichnete eine Wellenlinie •uf einen Kühler.

„Haben sich das einfallen lassen, die Autoleute. Kein Widerstand mehr. Man macht sich bloß dreckig.“ Harry lachte. Ihre Wege trennten sich, wenn sie durch die schmalen Labyrinthgassen um die parkenden Wagen gingen, und vereinten sich dann wieder. Der Rothaarige klopfte mit seinen spitzen grauen Schuhen gegen den Hinterreifen eines Straßenkreuzers. Harry schob einen Kaugummi in den Mund und sagte wieder etwas von Ausdauer. Aber er brach mitten im Satz ab und ergriff eine Antenne, die in der feiertäglichen Sonne blitzte. Er entschloß sich nicht. „Egal“, brummte er. Und sein Begleiter sagte wieder: „Fad!“ So kamen sie bis zum Gehsteig vor dem Kino. Harry spuckte den Kaugummi auf die Windschutzscheibe eines roten Sportwagens und schlenderte zum Schaukasten. Eine Frau zog sich um, und ein Mann mit einem Revolver sah ihr lauernd dabei zu. Der Film war nicht neu. Der Rothaarige lächelte gelangweilt. Sie verständigten sich wieder mit den Mundwinkel. Harry holte eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche, knipste mit dem Zeigefinger gegen die Cellophanbüile und hielt sie dem Roten hin. Sie rauchten und blickten über den leeren Gehsteig vor dem Kino. Die Veränderungen an der Frau und dem Revolver auf den weiteren Bildern interessierten sia nicht.

„Meine sind zu der blöden Ausstellung“, sagte Harry. „Feiertags immer“, ergänzte der Rothaarige nach einer Pause.

„Auch nackte Weiber“, setzte Harry fort, „aber in öl. Kunst aus irgendeiner Schule.“

„Meine sind bei der Verbindung. Graubärte und Humpen. Die kommen aus der halben Welt da zusammen. Reden über Ehre.“

„Meine haben mir das Geld gleich hingelegt. Wir reden nicht viel“, sagte Harry und lehnte sich mit leicht gekreuzten Beinen gegen einen Hydranten. „Feiertage kosten Geld, behauptet der Alte. Er ist nicht geizig. Die Kunst hat ihren Preis. Jeder nach seiner Fasson.“

„Ich krieg's nur von ihr“, erklärte der Rothaarige und lockerte den dünnen Knoten an seinem Hemdkragen. „Sie versteht mich manchmal. Sie ist genießbar. Er schreit gleich von Erziehung und so, und sie tröstet ihn mit dem Militär, zu dem ich einmal komme.“

„Fad!“ stellte Harry fest.

„Fad!“ pflichtete der Rote bei. Kein Mensch weit und breit. Die Ampel am Ubergang blinkte auf Gelb. Die beiden warfen ihre Zigarettenstummel auf die Stufen des Lichtspielhauses, sahen noch einmal flüchtig über Busenbilder und Plakate und dann über die farbigen Hügel der Autodächer und setzten sich in Bewegung. Sie schoben die Hände in die Hosentaschen und schwiegen eine Weile.

„Mein Kasten ist kaputt“, nahm Harry das Wort. „Wenn wir die Übertragung hören wollen, müssen wir zu Lollo.“

„Übertragung ist erst morgen“, sagte der Rote. „Heute ist bloß Wunschkonzert. Geheule zu Omas Geburtstag. Danke!“

Harry nickte. Ihm war nicht nach Musik. Sie gingen zum Fluß hinunter, der graugrün um die Brückenpfeiler schlierte. Sie mochten den Geruch am Wasser. Sie mochten die Fischer, die stundenlang unbeweglich auf den Steinen an der Böschung saßen. Heute waren es nur zwei, und einer von ihnen rollte eben die Schnur an seiner Gerte auf. Fischen hatte einen Sinn, und wenn die Alten fischen gegangen wären, hätten sie mitgehen mögen.

Sie stiegen durch das dünne Gras, über den Schotter, über ein rostiges Drahtseil und ein paar Bretter und geteerte Balken. Sie hörten hier unten den Fluß rauschen und atmeten auf. Die Richtung, die sie einschlugen, führte dem Wasser entgegen, und sie verständigten sich wortlos darüber, daß sie richtig war. Bis zur Eisenbahnbrücke schwiegen sie, blieben nur manchmal stehen, um ins Wasser oder ans andere Ufer zu sehen. Als ein Zug über die Brücke, unter der sie standen, hinwegdonnerte und die eisernen Träger vibrierten, wollte Harry etwas sagen, und sein Begleiter erschrak über den offenen Mund, aus dam der Lärm die Sprache wegnahm. Harry legte die Hände als Trichter an die Lippen und holte tief Luft.

Die Vorbereitung war nicht notwendig, denn plötzlich starb das Geräusch, das Eisen sang noch ein wenig, ein Windstoß fegte vorbei, und in der Luft tanzte eine Serviette in den Fluß. Sie konnten ein mit einer Gabel gekreuztes Messer erkennen. Die Schrift darunter war blau. Das Papier fiel ins Wasser, und Harry meinte seufzend, während er die Arme sinken ließ: „Die verstehen uns sowieso nicht.“

„Kann man nicht erwarten. Die sind mit dem Bauernkrieg kaum fertig.“

„Eben“, sagte Harry.

Sie wanderten langsam weiter. Der Rothaarige lachte. „Wenn die wüßten...“, meinte er. Am oberen Rand der Böschung wurden einzelne Bäume sichtbar. Telegraphenstangen und Gartenzäune.

„Meiner hat die neuen Essigflaschen erfunden“, erzählte Harry.

„Geld liegt auf der Straße! Die Essigflaschen aus Plastik kann man gleich dazuwerfen. Die ganze Zukunft liegt auf der Straße.“

„Die Autos walzen das ganz schön flach“, meinte der Rote. „Geld, Plastik und die Zukunft!“

Sie lachten und sahen den Fluß an. Er wurde breiter, die Böschung wurde weniger steil und mit niederem Buschwerk bewachsen. Am Boden wechselte Schotter mit schlammigem Grund. Sie mußten jetzt auf den Weg achten.

„Er braucht die Kunst, behauptet der Alte. Er sammelt Bücher und Bilder. Da sitzt er und schaut die rosaroten Engelchen an und entwirft seine Essigfla.hen. Ein Genie, flötet sie. Ich glaube, sie spinnt manchmal. Sie komponiert. Außerdem hat sie es mit dem alten Porzellan. Völlig unbrauchbar.“

Der Rothaarige grinste. „Macht nichts. Die Kunst ist doch egal. Hast doch eine ruhige Kugel bei eurem Flaschenversand.“

„Der Alte will mich studieren lassen. Vorträge, Vorträge sind das! Ich spiele bescheiden, aber er wird dann ganz groß: Rembrandt und Leonardo da Vinci und so. Und sie mit Beethoven. Ich werde verrückt. Sie können warten, sagen sie.“

„Müssen auch!“ ergänzt der Rothaarige. „Meine sind fürs Soldatenspielen. Strammer Offizier soll ich werden. Mit Orden. Stolz der Eltern. Am Ende General.“ Er nahm straffe Haltung an, salutierte und präsentierte Harry sein Zigarettenpäckchen.

Der Fluß machte eine Biegung. An den Ufern lagen große Granitblöcke als Wellenbrecher. Die Böschung war abgeflacht, Baumgruppen rückten an das Wasser heran. Die Straße führte im weiten Bogen am jenseitigen Ufer entlang. Der Verkehr war schwach. Die letzten Häuser waren verschwunden. Doch hinter dem kleinen Wald erhob sich ein Hügel, und darauf mußte ein Dorf stehen, dessen Kirchturmspitze schon herübergrüßte.

Sie mußten jetzt, um vorwärtszukommen, von Stein zu Stein springen. Auf einem besonders mächtigen Block, der in den Fluß hineinragte, setzten sie sich nieder und ließen die Füße über dem rauschenden Wasser baumeln. Sie entzündeten die Zigaretten, die sie schon seit einiger Zeit in den Mund genommen hatten. Dann lehnten sie sich zurück und sahen in den Himmel.

„Weißt du“, begann der Rote wieder, „Offizier ist nicht schlecht, ich bin nicht so feig wie sie glauben. Faul bin ich auch nicht. Aber es hat keinen Zweck.“

„Keinen Zweck“, kam es wie ein Echo von Harry zurück.

Sie wußten beide in diesem Augenblick, daß es keinen Zweck hatte — und sie wußten auch, daß es keinen Zweck hatte, den Zweck zu suchen. Sie hatten den Anschluß an den Zweck verpaßt. Ihr Leben war nicht sinnlos. Im Gegenteil. Während sie in die Wolken sahen und den leisen Schwindel der sich rasch bewegenden himmlischen Formen genossen, wußten sie, daß dies auch der Sinn ihres Lebens war. Es hatte keinen Zweck, sich in bestimmte Formen zu pressen. Es war langweilig. Die Alten gingen ihre Wege zu ihren Zwecken, zu ihrem Verband, zu ihrer Kunst und zu ihren Essigflaschen, und das Schlimmste war, daß das alles zusammenhing, daß alles an einem goldenen Faden hing. Alles zappelte an dem Faden, der aus Geld gedreht war. Das war der wirkliche Zweck. Aber das begriffen sie nicht. Nur die Jungen begriffen es. Sie sahen den Faden und lachten über die Hampelmänner.

Die Zigarettenstummel, die sie in den Fluß warfen, zischten auf und waren weg. An die Zeit hatten sie nicht gedacht. Harry sah auf die Uhr. Er hätte es nicht tun brauchen, denn sie hörten den Schlag des Kirchturms hinter dem Wald, und sie spürten die heranrückenden Schatten. Beide wollten sie zurückgehen, aber keiner hatte vor dem anderen den Mut; sich umzuwenden und flußabwärts zu gehen. Sie waren ein wenig müde.

Das Wasser rauschte stärker. Sie sprangen über die Steine uhd traten aus dem Uferwald. Vor ihnen lag die Stausperre des Flusses. Die Sonne stand tief und fiel golden in die aus den Schleusen fallenden Wasserstrahlmassen. Vom felsigen Grund stäubte dünner Nebel auf. Das Wasser brannte. Rote Glut floß aus der Gischt unter den Schleusen zusammen. Der Rothaarige und der kleine Schwarzhaarige sahen lange hin, und es war ihnen ganz neu, obwohl sie es schon in Farbfilmen gesehen hatten. Sie schüttelten beide den Kopf als wollten sie dieses Bild von Wasser und Feuer verneinen.

„Sieht nur so aus, als ob es egal wäre“, sagte Harry.

„Ist nicht egal“, sagte der Rothaarige.

Dann drehten sie um und gingen nach Hause. Sie kamen in die Dunkelheit und wurden schmutzig. Später leuchtete ihnen der Mond.

„Wenn du jetzt ,fad' sagst, schmeiße ich dich ins Wasser!“ rief der Rote einmal. Aber Harry hatte ja gar nichts gesagt, und er sagte auch nichts. Gegen den Hunger kauten sie Kaugummi. Die Lichterkette auf der jenseitigen Uferstraße wurde dichter.

„Die Alten kommen heute nicht heim“, bemerkte der Rote. Harry nickte. „Meine auch nicht!“ „Ist mir egal“, sagte der Rote. Sie kamen in die Stadt. „Fad!“ sagte Harry.

„Das Kino ist auch schon aus“, sagte der Rothaarige. „Du hast keine Ausdauer“, meinte Harry. Auf dem Parkplatz unter dem Helden mit dem patinierten Schwert trennten sie sich.

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