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„Wer spricrtt von Siegen?“

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WER SPRICHT VON SIEGEN?

Redner gedachten der Tage vor fünf Jahren. Zeitungen brachten Artikel. In großen Worten wurde vom Siege gesprochen, der im Februar 1948 erreicht wurde. Vieler Taten wurde gedacht, die in diesen Jahren gesetzt wurden, viele Ereignisse erwähnt, die sich zugetragen. Einige allerdings wurden vergessen, einige, die wie ein Symptom das Vorhandensein eines schweren Leidens bezeugen. So verschwand in diesen letzten Jahren immer mehr der Zucker — im Zuckerland Böhmen; verschwand immer mehr die Kohle — im Kohlenland Böhmen; verschwanden die Werke des „braven Soldaten Schwejk“; verschwand das alte Volkslied „Wo ist meine Heimat“; verschwanden die Christbäume zu Weihnachten. Symbole dafür, daß das Leben bitterer wurde? Und ohne Wärme? Und ohne Humor? Ohne Heimat? Ohne Licht? Wer spricht davon?

Wer spricht von Siegen?

ÜBERSTEHN IST ALLES.

Die östlichen Slawen, die großen slawischen Völker, sehen uns Tschechen kaum noch als Slawen an. Wir gelten als restlos dem Westen verfallen. Eine Anschauung, die nicht ohne Wahrheit ist. Wir sind vom Abendland durchtränkt. Unser Denken, unser Lebensstil, unsere Religion ist „westlich“. Sogar unser Humor ähnelt vielmehr dem angelsächsischen als dem russischen, eine Tatsache, die jeder, der Gogol und Capek kennt, anerkennen wird. Dennoch haben wir Eigenschaften, die beweisen, daß uns manche, wenn auch dünne und fast unsichtbare Fäden mit dem Slawentum verbinden. Fäden, die trotz der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zum Westen nicht zerrissen sind. Da ist der furchtbare dämonische Haß, der plötzlich aufspringen kann, um unser ganzes Volk wie eine Springflut zu überschwemmen, wie es zur Hussitenzeit und im Jahre 1945 geschah. Und dann die Fähigkeit, jederzeit und sofort einen „Eisernen Vorhang“ vor seinem „Ich“ herunterzulassen, wenn dieses Ich bedroht ist. Bedroht durch Terror, durch Tyrannis, durch Brutalität, durch ein „An-die-Wand-Spielen“. Einen „Eisernen Vorhang“ herunterzulassen, hinter den niemand mehr blicken kann, einen „Eisernen Vorhang“, der ein letztes Stück „Ich“ rettet, einen letzten Rest vor dem Ausgelöschtwerden bewahrt. Dieses größte Erbe des Slawentums war nur zu oft eine Rettung in unserer Geschichte. Denn dieses Erbe war eine Hilfe, alle Katastrophen zu überstehen. Der Schwache geht dadurch nicht unter. Er ist zwar nicht Sieger, aber er übersteht. Und:

Veberstehn ist alles.

WER SPRICHT VON SIEGEN?

Jedes Land hat seine Heiligen. In ihnen spiegelt sich nicht nur die himmlische Heimat wider, der sie zustrebten, sondern auch die irdische, der sie entstammten: im hl. Franz die Lieblichkeit Umbriens, in der hl. Katharina das herrische Siena, im hl. Thomas Morus das England der Gentlemen, im hl. Leopold die ganze Struktur Oesterreichs, und im hl. Johannes von Nepomuk, in unserem Heiligen, das Schweigen des Landes.

Böhmen ist das Land des Schweigens. Eine Insel des Schweigens. Das Schweigen gehört zu uns, wie zu anderen Menschen die Gesichtsfarbe. Wir werden es nie ablegen können. In vielen Jahrhunderten, in vielen Katastrophen, die über uns gingen, wurde es uns anerzogen. Oder besser gesagt, haben wir es gelernt. Denn im Angesicht dieses Schweigens wurde vieles zuschanden. So wie einst ein schweigender Blick die ganze Sündenwelt des Petrus zerstörte oder die Welt der Heuchelei eines Kaiphas oder die Welt der Macht eines Pilatus. Im Angesicht des Schweigens zerrinnen viele Siege dieser Welt. Wer spricht davon?

Wer spricht von Siegen?

ÜBERSTEHN IST ALLES.

Schrecklich ist es, allein zu sein. Aber noch schrecklicher ist es, niemals allein zu sein. Der Mensch verliert sein Ich, wenn er niemals über sein Ich nachdenken kann. Niemals zu sich kommen kann. Aber gerade dies ist ja das Interesse der totalitären Regimes aller Schattierungen. Das „Ich“ des Menschen soll ausgelöscht werden. Diese Regimes geben sich die größte Mühe, den Menschen nie allein zu lassen. Ist er mit seiner Arbeit fertig, muß er zu allen möglichen Versammlungen, Feierlichkeiten, Manifestationen. Geht er dennoch einmal auf Erholung, weg von den Menschen, so kommt er in eine Kollektiverholung. Nie ist er allein. Und sein Ich erlischt.

Wir können uns dagegen schützen, daß das „Ich“ erlischt. Durch das Herunterlassen eines „Eisernen Vorhanges“, durch das Schweigen, in dessen Bannkreis alles zuschanden wird.

Aber trotz alledem wird diese Zeit ihre großen Spuren hinterlassen. Ihre Belastungen. Die Düsterkeit, die wir aus den früheren Zeiten mitschleppen, ist schon groß genug. Wer vor 1914 sich die Kinder eines der großen österreichischen Kollegien ansah, Kollegien, in denen die Jugend aller österreichischen Nationen versanamlt war, wiiKlksbuig etwa, dem fiel oft der große Ernst, die Düsterkeit, die Schweigsamkeit der Schüler auf, die aus böhmischen Familien stammten. Zu einer Zeit, die doch nur Frieden und Ruhe und Sicherheit besaß. Diese Düsterkeit besaßen auch die Deutschen Böhmens. Ja, bei ihnen war sie noch viel ausgeprägter als bei den Tschechen. Denn sie, die Deutschen Böhmens, besaßen nicht das, was bei uns doch immer wieder durchbricht: den Humor. Das Lachen eines Nestroy, der Humor, wie er in „Figaros Hochzeit“ aufscheint, oder im „Schwierigen“ von Hofmannsthal, oder in seinem „Rosenkavalier“, war ihnen ebenso fremd wie die Art des Humors, den wir besitzen: etwas melancholisch in der „Humoreske“ von Dvorak, oder etwas derb in den „Geschichten vom braven Soldaten Schwejk“, oder trocken in den Geschichten von Karel Capek.

Niemand entzieht sich den Wurzeln, aus denen er stammt. Jeder Mensch trägt sein Erbe. Und auf uns wurde zu oft gehämmert. Wie jetzt. Waren wir Amboß. Wie jetzt. Sterben wir nur züviele Tode. Was sollen wir jetzt uns wünschen? Den Krieg? Das wäre Wahnsinn. Er wäre aller Untergang. Das alles bleibt wie es ist? Wir haben nicht viele Wünsche. Vielleicht nur noch den einen: zu überstehn. Und:

Ueber st ehn ist alles.

WER SPRICHT VON SIEGEN?

Die Welt hat gar keine oder recht romantische Gedanken über die Welt der Slawen, Gedanken, über die man nur mitleidig lächeln kann. Die vor allem eine völlige Unkenntnis verraten. Slawen haben sehr oft schöne, manchmal zu schöne Gedanken über ihr Volk, Ueber ihre Aufgaben. Dostojewski und andere Schriftsteller haben sie formuliert, haben die Gedanken, die in der Luft lagen, in schöne Worte gekleidet. In die Worte von der „Messianität der Slawen“. Ein schönes Wort, aber ein gefährliches Wort. Denn es kann Kreuzzugsstimmungen und ähnliches hervorrufen, unter dem Vorwand, der Menschheit die Erlösung zu bringen. Aber die Erlösung ist schon gekommen, das ist der große Irrtum dieses Wortes. Und daneben gibt es keine andere.

Gewiß, eines ist sicher: jede Nation hat ihre Aufgabe im Weltenplan. Im Mittelalter sagte man, die Aufgabe der Deutschen sei es, das Imperium zu tragen, der Franzosen, das Ma-gisterium innezuhaben und der Italiener, das Sacerdotium zu besitzen. Also werden auch wir eine Aufgabe haben. Aber welche? Welche Aufgabe können die Trauernden, die Schweigenden, die Halbgestorbenen, die Verlassenen noch haben? Vielleicht, vielleicht ist es ihre Aufgabe, ein wenig mitzutragen an der Verzweiflung der Oelbergstunde, an ihrer Verlassenheit, ihrer Todesangst, ihrem Verdursten, ihrer Düsterkeit, ihrem Schweigen? Vielleicht gilt es nur auszuharren, bis diese Aufgabe erfüllt ist? Auf diese Stunde gilt es zu warten.

Wer spricht von Siegen? Ueber st ehn ist alles.

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