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DER MALSTELLER

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Wenn man durch mehrere Jahre gezwungen ist, Gemäldeausstellungen zu durchwandern, so muß man eines Tages den Begriff Malsteller erfinden. Er verhält sich zum Maler wie der Schriftsteller zum Dichter. Das Wort bringt Ordnung in verwirrte Erscheinungen. Es leben die Schriftsteller seit Beginn unserer Zeitrechnung von der Umstellung der zehn Gebote Gottes und einigen Fabeln, die ihnen die Antike überliefert hat; die Annahme, daß auch die Mal-stellerei nur von einigen malerischen Grundeinfällen lebt, ist darum schon im voraus nicht unwahrscheinlich.

Zehn wären nicht wenig. Denn wenn man zehn Einfälle richtig anwendet, das heißt in wechselnder Anordnung verbindet, so ergibt das, Rechenfehler vorbehalten, 3,628.800 verschiedene Kombinationen. Jede dieser Kombinationen wäre anders und alles doch immer das gleiche. Der Kenner könnte ein Leben zurücklegen und zählen: Eins — zwei — drei — vier — fünf..., Zwei — eins — drei — vier — fünf..., Drei — zwei — eins — vier — fünf... und so weiter. Freilich wäre der Kenner empört und sähe sich in seinen bedeutenden Fähigkeiten geschädigt.

Es scheint auch, daß es nach etlichen Hunderttausend den Malstellern selbst zu dumm wird, und sie wechseln dann die „Richtung“. Was eine Richtung ist, sieht man auf den ersten Blick, wenn man einen Ausstellungssaal betritt. Man möchte es viel schwerer erkennen, wenn man vor ein einzelnes Bild träte; aber über mehrere Wände ausgespannt, lassen sich Kunstschulen, -richtungen und -zeiten so deutlich wie Tapetenmuster unterscheiden. Hingegen wirkt meistens undeutlich, wie sie theoretisch begründet werden. Ich will damit den Malstellern nicht nahetreten; sie geben rechtschaffene Arbeit, können viel, und persönlich sind sie meistens Individualitäten. Aber die Produktionsstatistik ebnet das ein.

Eine Benachteiligung, die ihnen widerfährt, muß man übrigens dabei anfuhren: daß ihre Werke offen an der Wand hängen. Bücher haben den Vorteil, daß sie eingebunden sind und oft umstritten. Dadurch bleiben sie länger berühmt; sie halten sich frisch, und der Ruhm beginnt dort, wo man von einer Sache weiß, sie aber nicht erkennt. Dafür haben die Malsteller freilich wieder den Vorteil, daß sie weit regelmäßiger „gefragt werden“ und „notieren“ als Schriftsteller. Wenn es den Kunsthandel nicht gäbe, wie schwer wäre es zu unterscheiden, was einem besser gefällt! Christus hat seinerzeit die Händler aus dem Tempel vertrieben: Ich bin aber überzeugt, wenn man den rechten Glauben besitzen könnte, dann könnte man ihn auch verkaufen, dann könnte man sich auch mit ihm schmücken, und dann gäbe es sehr viel mehr Glauben in der Welt als jetztl

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