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Poetische Gesänge mit Sprengkraft

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Die Bettler erzählen sich die Geschichte eines stolzen Führergeschlechts in einem Stadtteil von Kairo über viele Generationen hinweg. Sie beginnt mit Aschur, dem Findelkind, das von seinem Ziehvater zu Gottvertrauen und fleißiger Arbeit erzogen wird und durch körperliche und charakterliche Stärke zum Führer seines Viertels aufsteigt. Er schafft es, daß „die Herzen der Habenichtse und Hungerleider mit neuer Hoffnung erfüllt wurden und die reichen Herrschaften ängstlich der Zukunft entgegensahen", weil er trotz seines Aufstiegs kein Geld für sich selbst in Anspruch nimmt und weiter bescheiden lebt und arbeitet.

Aschur wird über viele Generationen als Held und Heiliger verehrt, auch wenn seine Nachkommen es schaffen, alle nur erdenklichen persönlichen und politischen Fehler zu begehen. Im Bewußtsein, einem Heldengeschlecht anzugehören, sind sie zwar beseelt davon, ihrem Namen Ehre zu machen, im Detail gelingt es einfach nicht. Gute Vorsätze von harter Arbeit werden schnell vergessen, wenn sich Wohlstand einstellt, die geliebte Frau wird verlassen, um eine reiche Jüngere zu heiraten, Mitstreiter werden verraten, ehrliche und damit lästige Geschwister umgebracht. Immer wieder sind es die Frauen, die ihr einfaches Leben so laut beklagen, daß der „Führer" ins Wanken kommt. Oder die Mütter, die sich mit Ratschlägen und geschickter Heiratspolitik den Wohlstand einhandeln wollen.

Je lauter die Lobgesänge auf den hochverehrten Ahnvater Aschur erklingen, desto weniger werden seine Nachkommen diesem Erbe gerecht. Immer tiefer versinkt die Familie in Korruption und Kriminalität und das Stadtviertel in Armut und Elend. Schließlich besinnt sich ein Nachkomme auf die vielen Bettler, mobilisiert sie und stürzt die bestehende korrupte Schutzherrschaft. Doch wieder ist der Erfolg nur kurz, und sehr schnell erhalten brutale Führer wieder die Vorherrschaft. Wieder vergehen einige Generationen, bis es am Schluß einem Nachkommen des Geschlechts, der den Namen seines Heldenurahns Aschur trägt, gelingt, die Bevolution der Bettler erfolgreich anzuführen. Wie lange der Erfolg diesmal anhalten wird, bleibt offen, doch es gibt wieder Hoffnung im kleinen Stadtteil von Kairo.

Nagib Machfus hat keinen Boman geschrieben. Eher sind es Gesänge, die vom Kommen und Gehen der Generationen berichten und den kleinen widrigen Umständen, die das gut Gewollte zum Scheitern bringen. Es sind sinnliche Berichte, die voller poetischer Kraft vom inneren Kampf der Menschen erzählen und den trivialen äußeren Umständen, die an allen „Notabein und Beichen" genauso nagen wie an den „Bettlern und Hungerleidern". Unschwer erkennt man frühere und aktuelle politische Geschehnisse in allen Ländern der Welt. Ausgenommen davon sind lediglich die Derwische, die hinler ihren Klostermauern ihre geheimnisvollen Gesänge pflegen. Für Aschur und alle seine kämpferischen Nachkommen ist der Platz vor dem Derwischkloster ein kontemplativer Ort, an dem sie nachdenken und versuchen, den richtigen Weg zu finden.

Trotz der poetischen Sprache hat das Buch große politische Sprengkraft. Muß man sich mit Tyrannen abfinden? Warum sind manche „zum Verdienen da, andere offensichtlich nur fürs Verschleudern"? Warum hortet einer Geld, wie „um ein Bollwerk zu errichten, das ihn vor dem Tod schützen, ihm die Trauer über das verlorene Paradies nehmen konnte"? Wie soll „einer, den die Angst beherrscht, einen klaren Gedanken fassen können"? Warum ist es so, daß „Armut Makel offenbart, Beichtum sie zudeckt"? Warum nur „jammerten und stöhnten die feinen Herrschaften, doch ihre feisten Gesichter straften sie Lügen"?

Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß „nicht alle, die Zügel halten, lenken". „Am elendsten ist der dran, der inmitten der Niederlage den Sieg besingt." Machfus läßt aus der sich scheinbar wiederholenden Geschichte von Irrtümern und Fehlern Hoffnung wachsen, auch wenn sie nur vage ist: „Wo es Irrtümer gab, war auch Vernunft, und wenn es einmal Vernunft gegeben hatte, konnte es sie wieder geben."

Nagib Machfus gelingt in seinem bereits 1977 geschriebenen, erst jetzt aus dem Arabischen übersetzten Werk, was - wie einer seiner Helden meint - nur wenigen gelingt: „Aus den Geschehnissen Zusammenhänge abzuleiten, die von Bedeutung sind."

DAS LIED DER BETTLER

Von Nagib Machfus. Unionsverlag, Zürich 1995 510 Seiten, geb., öS 555,-

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