6533859-1946_05_13.jpg
Digital In Arbeit

Wiener Rokoko

Werbung
Werbung
Werbung

„... Wien, liebster Bruder, ist der Ort, der unter allen mich noch am meisten gefesselt hat. Vielleicht würde er Dir nicht so gefallen,wie mir, denn Du weißt, unsere Temperamente sind sehr verschieden; ich bin sinnlicher wie Du, und ich bin es mehr als jemals, seitdem ich der Schwärmerei auf immer adieu gesagt und einsehen gelernt habe, daß es Torheit sei, um des ungewissen Zukünftigen willen- das sichere Gegenwärtige zu verscherzen. Ich werde, glaube ich, immer der ehrliche, menschenfreundliche Mensch bleiben, werde immer das Tugend nennen, mein Wohl ohne Nachteil des Nächsten zu suchen, und das das größte Wohl, anderer Glück und anderer Zufriedenheit genießen und befördern zu können. Aber ich werde nicht wieder glauben, daß wir der Süßigkeiten angenehmer Empfindungen empfänglich gemacht worden sind, bloß um den Schmerz zu fühlen, sie uns selbst versagt zu haben. Wahres Glück ist nach meiner Meinung jetzt: alles zu genießen. Für ein Herz wie das meinige, welches der Freude, mit Menschen zu leben, sie zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, so offen ist, muß ich Dir gestehen, ist Wien Paradies. Empfinden war immer meine erste Wohllust, Wissen nur die zweite; und wieviel Uberwindung es mich gekostet hat, in den Zeiten der traurigen Schwärmerei und Bigotterie mein Gefühl zu kreuzigen, ist mir jetzt selbst in der Erinnerung entsetzlich. Wien ist schön gelegen. Die Stadt nicht gar groß und eng; die Vorstädte aber weitläufig und geräumig, mit Gärten usw. Die Gegenden sehr schön. Der Geschmack im Ameublement sehr gut und überaus auf Bequemlichkeit eingerichtet. Viele Dinge sind hier freilich Bedürfnis, die anderwärts zum weitgetriebenen Luxus gehören würden, aber ich weiß nicht, wie es ist, alles verrät Wohlstand, Reichtum, der anderer Orten nidit und am wenigsten in Kassel zu finden ist. Gewisse Sachen, als Essen und Trinken, sind im Überfluß, tob der allerbesten Qualität und wohlfeil. Daß aber die Wiener so gar abscheuliche Fresser wären, wie Nicolai und der reisende Franzose (der ein geborener Salzburger namens Kaspar Riesbeck ist) meinen, ist falsch. Ein Hauptpunkt, statt alles anderen Beweises: es wird entweder gar nicht oder äußerst wenig zu Abend gegessen. Da kann man sich schon eine gute Mittagsmahl-?.eit erlauben. Auch wird wenig getrunken; im Gegenteil ist es Ton, wenig zu trinken, und das nicht etwa seit Nicolais Zeit. Wenn sie von den

Bemerkungen der Reisenden über ihr Fressen sprechen, werden sie nie eifrig, sondern sagen bloß: es sei wahr daß sie gern was Gutes essen, weil sie es hätten, und man habe ihnen gesagt, die Berliner äßen auch gern was Gutes, wenn sie es nur hätten; ihr eigener König wisse das wohl. Sie wollten ja gern die Leute an ihrem Überfluß teilnehmen lassen, wenn man nur zu ihnen käme. Von aller Animosität ist man hier weit entfernt, o sehr auch in Berlin gehetzt wird; denn so weiche, gutherzige Leute wie die Wiener im Durchschnitte findet man selten anderwärts. Ich glaubte alles in Harnisch gegen Nicolai zu finden, aber es war nichts weniger.

Es gibt in Wien einen sehr angenehmen Ton in Gesellschaften, man ist — wenigstens ist's mir widerfahren, und warum sollte sich ein anderer nicht ebensogut hineinfinden können — gleich vom ersten Eintritt auf dem freundschaftlichen vertrauten Fuß, der ein gegenseitiges Zutrauen voraussetzt; quicunque praesumitur bonus, — und daher ist man auch iriter bonos bene, ohne ängstliche Zurückhaltung, ohne steifes Zeremoniell. Mir ist dies besonders angenehm, mir, der ich so gern den Menschen nehme, wie er ist, so ungern mißtrauisch bin und daher so gern sehe, daß andere es auch nicht sind. Es ist wahr, daß ein feiner Epikuräismus aus dieser Stimmung hervorleuchtet, daß man im Durchschnitt den Freuden des Lebens offen ist und sie gern genießt, aber wer von sjch im Ernst behaupten kann, daß er alle Affekten gezwungen habe und daß diese Selbstverleugnung wahrhaft glücklich macht, nur dem will ich erlauben, den ersten Stein auf die Wiener zu werfen; — doch nein! auch dem nicht; denn man sollte überhaupt nicht gestatten, daß Steine geworfen werden auf den, der anders tut und denkt.

Die Frauenzimmer hier sind hübsch, sind artig, witzig und auf die angenehmste Art ungeniert. Französisch und Italienisch kann jedermann; und zum Erstaunen viele können Englisch. Ein hiesiger Gelehrter, Herr von Retzer, hat eine Choice of the best English writers in zwei kleinen Bändchen gegeben, die Edition war im Augenblick vergriffen. Du wirst mir recht geben, daß man unmöglich diese drei Sprachen kennen kann, ohne eine Auswahl von guten Gedanken in den Kopf zu kriegen, die darin geschrieben sind, so wird Verstand und Herz gebildet. Klavierspielen ist ganz allgemein, und Zeichnen auch ziemlich. Es ist also zur Unterredung und Unterhaltung Stoff genug in den Köpfen, wenn man es darauf anlegt. Allein außer diesen hat Wien auch manchen gelehrten Mann und manchen witzigen Kopf.“

Georg Forster an S. Th., Sömmering, 1784.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung