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zwisdien sieben und neun

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Zwischen sieben und neun Uhr abends muß es geschehen sein, werden die Mediziner feststellen. Um sechs Uhr war sie noch bei Freundinnen und hat gelacht und gescherzt, wird die Polizei erfahren. Dann sei sie gegangen. Warum nur so weit vor die Stadt hinaus? Das weiß niemand, und niemand wird es je wissen!

Jetzt liegt sie da auf dem Boden, am Wegrand im Dunkeln, mit zerrissenem Kleide, die Augen starr und glasig, die Hände in den Boden verkrampft. Und am Halse die häßlichen Male würgender Finger. Die Zeichen der Gewalt!

Tot und kalt! Sie wird nie mehr lachen dürfen! — Zwischen sieben und neun ... aber das wird niemanden interessieren!

Die Nacht ist dunkel und schwer. Aber es leuchten schon wieder ein paar Sterne herab, noch matt, wie durch einen Schleier zwar —, aber es wird ein schöner Tag werden, morgen!

Da gellt ein Schrei auf, ein Schrei — entsetzt, um Hilfe rufend! Ein Fluch wird laut — Stoßen und Schlagen; ein Keuchen und wieder ein Schlag — und wieder und wieder! Dann ein dumpfer Fall — und es wird still.

Die Nacht ist dunkel und schwer. Nur wenige Sterne schimmern. In der Ferne leuchten die Lichter der Stadt, und der Wind trägt abgerisseneTöne irgendeiner Musik vor sich her. Jemand flieht.

Erst morgen wird man sie finden.

Eine Mutter wird weinen — und wird sich nicht trösten lassen. Ein Freund wird verzweifelt sein in ohnmächtiger Wut. Bekannte werden es entsetzt hören — und mit prickelndem Erschauern wird man es in den Zeitungen lesen. Es ist ein sehr dankbarer Stoff für die Zeitungen!

Nach dem Frühstück oder dem Mittagessen liest man es — und schickt vielleicht die Kinder weg. Daß man darüber reden kann'

Wer es wohl war? Und wo mag er jetzt sein? Ob sie ihn erwischen? — Wie Alt war sie gleich? Ah, zweiundzwanzig! Schrecklich! So ein junges Mädchen! Und sicherlich auch hübsch, nicht? Entsetzlich!

Oh, es ist interessant, darüber zu sprechen! So interessant! Denn es ist das schwerste Verbrechen

— gegen das Leben!

Denn es ist das schmutzigste Verbrechen — gegen die Reinheit!

Denn es ist das gemeinste Verbrechen

— gegen Schwäche und Hilflosigkeit! Wie interessantl

O Gottl

Zwischen sieben und neun. Dunkel und schwer liegt die Nacht über der halben Erde. — Ein Mädchen wehrt sich gegen einen Mann. Es wird geschlagen von harten Fäusten, immer wieder. Da schreit es gellend auf. Dann verstummt der Schrei — und es erliegt. Es kann sich nicht mehr wehren — vielleicht kann es noch weinen! Aber auch das Weinen endet — und mit ihm ein Leben, unter nackten, würgenden Händen.

Jemand flieht. Das Opfer bleibt liegen. Glanzlose Augen starren in die Nacht. Das Kleid ist zerfetzt; der Körper erkaltet rasch — auf dem kalten Boden, in dieser kalten Nacht.

Ein Leben weniger! Nur eines — aus Millionen. Nur ein ganz kleines vielleicht

— mit ein paar Fragen und ein paar Antworten — mit kleinen Wünschen und einer großen Sehnsucht — vielleicht! Ein zerbrochener Kreis: ein Leben — nicht mehr.

Ein Schrei durchgellt die Nacht — und irgendwo arbeiten einige noch und viele fahren heim und einer liest und viele schlafen.

Ein Mund verstummte — aber irgendwo geht gerade die Sonne auf und Millionen sind erwacht. Ein paar beten — und jemand rasiert sich — und viele fluchen.

Ein Körper ist kalt geworden — aber ein Schrei gellt noch immer durch die Nacht, und gellt durch den Tag dort, wo jetzt die Sonne scheint, und erfüllt die ganze Welt. Wie eine Welle schlägt er über ihr zusammen und wogt hinaus. Dröhnend schlägt er an die Sterne und

bricht hinaus über die Grenzen Raum und Zeit.

E:n Beben geht durch die Schöpfung. Für den Bruchteil einer Unendlichkeit hallen Sonnen inne und wollen erkalten; kreischend weichen Gestirne aus ihren Bahnen.

Und die Geister erstarren entsetzt. Denn Gott hat den Schrei gehört. Gott ist gram, und weint. Denn Gott kann leiden — da er leiden wollte ... und Menschen schuft Weil er liebt!

Und Gott, ist zornig, nicht weil ein Mädchen geopfert wurde an den Stufen der Gewalt — ihre Zeit war um; aber Gott ist zornig über den einen, der es getan hat; der flieht und keine Reue hat... und ein kaltes Herz! Und ... viele könnten dieser eine gewesen sein!

Durch das lastende Schweigen der Gestirne geht schon das Zittern des Untergangs. Denn Gott schaut auf die Welt. In seinem Blick liegt die unendlich große — die verschmähte Liebe.

Und wohin dieser Blick trifft, schlagen Flammen des Untergangs aus dem Nichts nach dem Geschaffenen; die Sterne reißt es aus ihren Bahnen; sie fallen vom Himmel, auf die Erde zu, sie im Gluthauch des Zusammenprallens zu zermalmen — und alles, was auf ihr lebtl

Aber Gott weint —

Und diese Tränen sind seine erbarmende Liebe. Sie löschen die Flammen.

Und auf der Erde hebt einer einen Kelch voll Opferwein empor. Er darf um Gottes Tränen bitten, und sie fallen hinein.

Da wird der Wein zu Blut und schäumt über.

Da erst verstummt der entsetzliche Schrei.

Da haben die Sonnen nie innegehalten und die Sterne ziehen ruhig ihre Bahnen, die sie nie verlassen haben.

Denn Gottes Liebe ist unendlich größer!

Und so können sie noch arbeiten und die Brücken, über die sie heimfahren, brechen nicht zusammen. Der eine kann lesen und die vielen dürfen schlafen.

Zwischen sieben und neun — da geht irgendwo die Sonne auf und Millionen sind erwacht. Ein paar beten — und ihre Gebete werden gehört — und jemand rasiert sich — und viele ... können wieder fluchen.

Es ist Nacht... und immer ist es Nacht über der halben Erde; aber auch dort, wo dann zugleich die Sonne aufgeht —, ist es zwischen sieben und neun...

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