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Biblische Spiele aus Polen

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Das Teatro Narodowy aus War-ichau gastierte an zwei Abenden im Burgtheater. Der erste Abend brachte „Die Historie von der glorreichen Auferstehung des Herrn. Nach den heiligen Evangelisten zusammengestellt und von Mikolaj aus Wilkowiecko, dem Mönch aus Czestochowa in Vers gesetzt und niedergeschrieben. Bearbeitet und mit besseren Freunden als die des Bacchus undder Venus von Kazimierz Dejmek vorgeführt.“ Der umständliche Titel besagt schon, auf welche ungewöhnliche Weise Dejmek, Leiter und Chefregisseur des polnischen Nationaltheaters, das naive Mysterienspiel des Paulaner Probstes aus dem 16. Jahrhundert der intellektuellen Freude eines zeitgenössischen Publikums eben an dieser Naivität nahezubringen versucht. Es geschieht im Stile einer travestierenden Volkskomödie, in der die Wächter am Heiligen Grabe bestechlichen Tölpeln, die Hohenpriester Hanna und Kaiphas unaufrichtigen Verführern gleichen, in der die heiligen Frauen beim Krämer eifrig um den Preis der Salben feilschen, Eva wie eine Xantippe keift, Luzifer und Cerberus wie „schiache Perchten“ umhertoben, so daß der auferstandene Christus selbst auf einer Leiter zur Hölle hinabsteigen und tatkräftig in die allgemeine Rauferei eingreifen muß. Über dem Höllenpfuhl und der übermütigen Sphäre des Irdischen aber wölbt sich das himmlische Jerusalem, jedesmal, wenn der Knabenchor eines der altpolnischen liturgischen und frommen Lieder singt. Gewiß war hier ein besonderer theatralischer Instinkt und raffinierter Bühnenintellekt am Werk. Gemeinsam mit dem eminenten Bühnen-, Masken und Kostümbildner Andrzej Stopka, der das Spiel in das Bauernhaus eines polnischen Gebirgsdorfes mit dem Blick auf die Berge versetzte, gelang es dem Bearbeiter und Regisseur, aus dem alten Drama ein neues, aus der Tradition eines mittelalterlichen religiösen Volksspieles echtes modernes Theater erstehen zu lassen.

Um eine Spur gravitätischer, höfischer, aber darum nicht minder lebendig gibt sich die Moralität „Dos Leben Josephs aus dem judäi-schen Geschlecht des Sohnes Jakobs“, das Mikolaj Rey in 6000 Verse gebracht und um 1545 anonym veröffentlicht hat — das älteste im Druck erhaltene Stück polnischer Theaterliteratur. In der Schilderung der ungewöhnlichen Abenteuer des Namadenhirten aus dem Lande Kanaan erweist sich der Verfasser als Humorist und Realist. Der Knabenchor ist hier durch einen Chor Jungfern und Jünglinge ersetzt, die zu Weisen aus dem 16. und 17. Jahrhundert singen und tanzen, begleitet vom Musicae Anti-quae Collegium Varsoviense. Der dramaturgischen Bearbeitung und Regie Kazimierz Dejmeks gelang hier noch ein geschlosseneres Ganzes, ebenso wie das Bühnenbild und vor allem die Kostüme Andrzej Stopkas geradezu bezaubern. Die eigentliche Handlung beider Spiele wird von Interludien, meist derben Rjüppelspielen, urvteihrochen, die mit einer „Moral“ enden und wohl auch zeitkritische Funktion hatten, etwa wenn der Bauernsohn, dem der Magister das Latein einbleuen soll, seinen Lehrer fragt: „Warum sind die einen Herren und die andern Knechte?“ „Warum haben wir kein Getreide, wenn wir welches brauchen?“ Gespielt wurde durchwegs hervorragend, wobei die Schauspieler oft mehrere Rollen verkörperten. Als Beispiel für alle sei Wojciech Siemion genannt, der am ersten Abend den Bauernjungen, Christus und den Leibeigenen spielte. Man mußte sich erst aus dem Programmheft vergewissern, daß es sich tatsächlich um ein und denselben Schauspieler handelte. Am zweiten Abend überzeugte er als Joseph mit jedem Tonfall, jeder Bewegung und Gebärde. Die Gäste wurden mit reichem Beifall bedacht.

Im Kleinen Theater der Josefstadt im Konzerthaus gab es nach längerer Zeit wieder einmal eine österreichische Uraufführung. Ernst Waldbrunn schrieb gemeinsam mit der Wiener Dramatikerin Lida Winiewicz das zweiteilige Stück „Die Flucht“. Thema: die unbewäl-tigte und wohl auch nie ganz zu sühnende Mitschuld am Geschehen der letzten „großen“ Vergangenheit Ein Komiker erzählt in einer schlaflosen Nacht dem Bühneninspizienten, wie er als „Halbjude“ mitgemacht hat: erst im Protektorat, dann im polnischen Gleiwitz, wie er mit dem Gauleiter, dem „Bluthund“ — der einstmals in Heidelberg über Heine dissertiert hatte —, gesoffen, in Auschwitz vor den erschöpften Schergen Theater gespielt, bis er durch die Schließung aller Theater brotlos geworden, in ein Arbeitslager gesteckt wurde, aus dem er entfloh und mit Hilfe seines „Freundes“, des Gauleiters, gerade noch vor dam Zusammenbruch nach Wien gelangen konnte. Dort erhielt er, wieder voll beschäftigt, eines Tages den Besuch des heruntergekommenen, steckbrieflich verfolgten Kriegsverbrechers. Zu feige, um sich an ihm zu rächen, ließ er ihn wieder laufen. Auf die bohrende Frage am Schluß: „Was hätte ich tun sollen?“ hat das Publikum selbst die Antwort zu finden. Es ist ein Erinnerungsstück mit Kommentaren, Photoeinblendungen und Kurzszenen, das nichts erklärt, aber auf Furchtbares anspielt. Neben Szenen voll dramatischer Spannung (so alle Gauleiterepisoden, weil Albert Lieven in der Mischung von Intelligenz und Brutalität ein unheimlich treffendes Porträt bot) stehen Wiederholungen der wachsenden Resignation und Verzweiflung. Ernst Waldbrunn hat mit seiner Mitarbeiterin eine große Rolle für sich geschrieben, der er als Schauspieler aber nur zu einem geringen Teil gewachsen ist. Eindrucksvoll war Rose Renke Roth in einer Episode als schwerhöriges Postfräulein. Die übrigen Darsteller hatten nur wenig Gelegenheit zur Entfaltung. Hermann Kutscher führte intensive Regie. Es gab starken Beifall eines sichtlich ergriffenen Publikums.

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