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Alte Menschen ohne Bücher

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Als Leser sind alte Menschen Stiefkinder im heutigen Kulturbetrieb. Das wird in der Untersuchung „Plädoyer für die alten Leser“ deutlich. Verfasser ist Ludwig Muth, Leiter des Herder-Verlages, also ein Mann der Praxis. Er wertete neben bereits vorliegenden Statistiken eigene Umfragen aus. Sein Fazit: Das Lesebedürfnis alter Menschen ist noch gar nicht entdeckt worden, sieht man von Großdruckschriften ab. Hinzuzufügen wäre gleich, daß diese Großdruckschriften, Traktätchen, meist eine heile Welt vorgaukeln, die dem alten Menschen kaum weiterhilft.

Zwar richtet sich die Untersuchung an den sich leider zwangsläufig immer mehr kommerziell orientierenden Buchhandel, aber sie offenbart gleichzeitig gesellschaftliche, psychologische und literarische Aspekte. Ältere Menschen bedauern die heutige Schnellebigkeit von literarischen Moden und Titeln, die Konzentration auf Bestseller. Das führt unter Umständen zu der Angst, manipuliert zu werden. Auch die aufdringliche Werbung mit grellen Schutzumschlägen, vor allem aber die unpersönliche Bedienung in Buchhandlungen wird ebenso lebhaft bedauert wie das Verschwinden kleiner Verlage mit individuellem Programm. Noch gravierender erscheint die Klage darüber, daß die gesuchten und verlangten Werke von Autoren, die für alte Leser einen spezifischen Erinnerungswert darstellen meist vergriffen oder nicht auf Lager sind. Die Hermann-Hesse-Renaissance bei der Jugend war bislang die einmalige Wiederentdeckung eines Autors, der von der älteren Generation hoch geschätzt wird.

Aber nicht nur der Buchhandel ist schuld daran, daß Pensionäre und Rentner selten zum Buch greifen. Da die Verlage den lebenswahren Unterhaltungsroman zugunsten von Reißern, Thrillern und oft sehr oberflächlichen Sachbüchern sträflich vernachlässigen und vor allem der gehaltvolle historische Roman als passe gilt, erscheint es vielen Menschen als vergebliche Liebesmüh, überhaupt noch eine Buchhandlung zu betreten. Aber wenn sie trotzdem in den Regalen stöbern, dann suchen sie Familien- und Frauenromane, Memoiren, heitere Romane.

Selbstverständlich bleibt der Bücherkauf vor allem für die Rentner vordringlich ein Geldproblem, und das gilt für viele Millionen alter

Menschen. Es ist mehr als erstaunlich, daß dieser Aspekt in der Untersuchung fast gar nicht erwähnt wird, obwohl es ja genügend Statistiken gibt, die beweisen, daß ein großer Teil der nicht mehr Erwerbstätigen in materieller Armut oder doch in recht dürftigen Verhältnissen lebt. Aber es gibt auch andere Faktoren, die das Lesen im Alter beeinflussen. Es wäre eine Illusion, zu glauben, man könne sich erst im Alter dem Lesen widmen. Die im Gegensatz zum Fernsehen als Eigenaktivität zu bewertende Tätigkeit des Lesens muß eine lebenslange Gewohnheit sein. Das ungelöste Problem der deprimierenden Einsamkeit und Langeweile alter Menschen wäre erträglicher, wenn die Betroffenen bereits in ihrer Jugend Leseratten gewesen wären. Wichtig ist es für die Alten auch, über das Gelesene sprechen zu können; das kann sich je nach den Lebensumständen positiv oder negativ auf das Lesen auswirken.

Wenn heute zwei Drittel aller alten Menschen kaum Bücher kaufen und damit die Chance verlieren, ihrer Lebenssituation eine befriedigende Seite abzugewinnen, sollte das auch Jüngere nachdenklich stimmen. Das Problem des Alterns und des Alters kann man mit karitativen Maßnahmen allein nicht steuern. Darüber ist sich Ludwig Muth als Verleger durchaus im klaren.

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