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„An den Brüsten der Natur”

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Wir haben herumgerätselt und etliche Bekannte gefragt, von denen wir annahmen, daß sie es wissen müßten, haben auch in einem Bestimmungsbuch nachgeschlagen, doch genau wußten wir es trotz weiterer Bemühungen doch nicht. Die Abbildungen in dem Buch waren so klein und variierten in den Farben. Unsere Bekannten, auch der Freund, der Zoologe, meinten, sie müßten es selbst sehen, und unserer Beschreibung nach, gäbe es mindestens zwei Möglichkeiten.

Unterdessen wurde die Baupe immer größer und dicker und wir konnten beobachten, wie sie ein Blatt nach dem anderen der halbhohen Pflanze verzehrte. Irgendwer mußte den Samen in unseren Garten getragen haben. Jetzt blüht alljährlich an der Mauer zum Nachbarhaus die zartviolette Kerze des Diptam oder der Aschwurz und die etwas lederartigen, glänzenden Blätter riechen, wenn man darüber streicht, erfrischend nach Zitrone. Diese aromatischen Blätter schienen es der Baupe angetan zu haben. Wäre es ein gewöhnlicher Spanner gewesen oder die Baupe des Schachbretts, hätten wir das kleine Lebewesen wahrscheinlich gar nicht bemerkt, doch die außerordentlich schönen und lebhaften Farben der Zeichnung machte uns auf den seltenen Gast aufmerksam. Der Körper war zwar grün, wie der Stengel des Diptam, doch mit schwarzen Querbändern in ziemlich regelmäßigen Abständen, auf denen sich dann kräftige gelbe Punkte befanden, gezeichnet. Da ihn meine Frau leicht zu berühren versuchte und über die feinen Borsten strich, stellte er sich vorne etwas auf und es zeigten sich zwei orange gefärbte kleine Hörner.

Bei dem nächsten Aufenthalt in der Hauptstadt erstanden wir endlich einen Naturführer, der ausgezeichnete Abbildungen von Schmetterlingen und deren Baupen hat. Nach diesem konnten wir, auch auf Grund der Beschreibung, feststellen, daß es sich um die Vorform des Schwalbenschwanzes handelt, eines Falters, der bei uns schon ziemlich selten ist.

Wir gingen nun jeden Tag zu der Baupe und sahen sie Blatt um Blatt verzehren, manchmal schauten wir beim Vorbeigehen schon ganz gewohnheitsmäßig hin. Sie fraß sich immer weiter und weiter. „Wollust ward dem Wurm gegeben”, schreibt Friedrich Schiller in der Ode „An die Freude”. Hatte er eine Schwalbenschwanzraupe beobachtet?

Wir freuten uns schon auf den, endlich der nun folgenden Verpuppung entschlüpfenden, lebhaft gezeichneten und eiligst von Blüte zu Blüte gaukelnden Falter. „Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur” heißt es weiter in dem Gedicht. Leise summten wir den Schlußchoral von Beethovens Neunter vor uns hin, wenn wir zu jenem Blumenbeet schritten.

Und heute morgens ist unter den nackten Stengeln des Diptam nur ein kleiner schleimiger Fleck zu sehen, eine Amsel hüpft zwischen den Blumen des Nachbarbeetes und schaut uns neugierig zu, wie wir die restlichen Blätter absuchen, die Stiele hin-und herbiegen und ratlos die Pflanzen der Umgebung untersuchen. Schließlich fliegt sie kreischend fort.

„Brüder - überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen.”

Wir gehen traurig ins Haus. Ich denke an Friedrich Schiller und den Duft der faulen Äpfel in seiner Schreibtischlade.

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