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Bacchus und die herrschende Klasse

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Camus hat in der Gestalt des Caligula gezeigt, wie uneingeschränkte Freiheit zu einem Übermaß an Verbrechen verleitet. Auch Jean Cocteau führt in seiner vor 21 Jahren entstandenen Tragikomödie „Bacchus“, die derzeit im Akademietheater gespielt wird, einen jungen Menschen vor, der vorübergehend über schrankenlose Macht verfügt. Aber der Fall liegt gänzlich anders.

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Camus hat in der Gestalt des Caligula gezeigt, wie uneingeschränkte Freiheit zu einem Übermaß an Verbrechen verleitet. Auch Jean Cocteau führt in seiner vor 21 Jahren entstandenen Tragikomödie „Bacchus“, die derzeit im Akademietheater gespielt wird, einen jungen Menschen vor, der vorübergehend über schrankenlose Macht verfügt. Aber der Fall liegt gänzlich anders.

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In einer deutschen Stadt wird zur Zeit der Reformation, einem alten Brauch folgend, nach der Weinlese ein „Bacchus“ gewählt, der sieben Tage hindurch alle Machtbefugnisse besitzt, deren er sich straffrei bedienen darf. Die Wahl trifft aus politischen Gründen Hans, den vermeintlichen Dorftrottel, der den Kretin nur gespielt hat, nun aber in seiner Machtfülle keineswegs Verbrechen begeht, sondern, die Lehre Christi in seiner Art auslegend, die schlummernden Kräfte der Liebe aufrütteln will, den Zehnten Abschafft, die Gefängnisse öffnet, völlige Freiheit postuliert. Die Vehemenz heutiger reformatorischer Jugend wird spürbar. Hier nun ist anarchische Gewalt die Folge, nicht bei Hans, dem Herrschenden, sondern beim Volk, die Befreiten errichten ihm den Scheiterhaufen.

Die Gegenwirkung des Volks wird — ein Fehler des Stücks — nur angedeutet, nicht wirklich gezeigt. Es geht Cocteau fast ausschließlich um die geistige Auseinandersetzung von Hans mit einem Kardinal, der von Rom als Legat in diese Stadt gesandt ist, eine imperiale Persönlichkeit. Ihn berührt in dem eigenwilligen, schwärmerischen jungen Kerl wohl etwas vom Urchristentum, daher will er Hans vor dem Scheiterhaufen bewahren, in ein Kloster retten, wenn er seinen Ideen als gotteslästerlich abschwört. Als sich der Ungebärdige aber lieber von seinem Freund töten läßt, ermöglicht er dem Toten um den Preis einer „frommen Lüge“ das Grab in geweihter Erde. In dem Kardinal ersteht eine Gestalt von überragender Geistigkeit, von souveräner Haltung, von tiefer Menschlichkeit.

Dieses Diskussionsstück von Rang wird unter der Regie von Wolfgang Glück ganz auf das Widereinander der geistigen Argumente hin inszeniert, wobei Pausen das Gesagte ausschwingen lassen. Das Bühnenbild von Jürgen Rose besteht aus einem durch Vorhänge begrenzten Raum, den Pfeiler und Decke lediglich andeuten, ansonsten gibt es nur eine griechische Statue, Tisch und Stühle. Durch diese optische Askese kommt das Wort voll zur Geltung. Klaus Maria Brandauer gibt dem Hans das frisch Impulsive des jugendlichen Fanatikers, Paul Hoffmann glaubt man als Kardinal die innere Überlegenheit dieses Kirchenfürsten. Erich Auer ist ein Herzog von ruhiger Würde, Helma Gautier wirkt als seine Tochter Christine klug, klar, beherrscht, bis die Leidenschaft durchbricht.

Kein Zweifel, in England nimmt die Aristokratie nach wir vor durch ihren Grundbesitz eine beherrschende Stellung ein. In dem Stück „Die herrschende Klasse“, das derzeit im Volkstheater zu sehen ist, versucht der 41jährige Peter Barnes gewissermaßen eine szenische Charakteristik dieser Gesellschaftsschichte. Wie? Stellen wir schlicht fest: Der Earl of Gurney erhängt sich, sein schizophrener Sohn und Erbe Jack hält sich für den Gott der Liebe, als er durch Konfrontation mit einem anderen Narren, der sich als „elektrischen Christus“ bezeichnet, geheilt wird, ermordet er während einer Umarmung — gleichsam als Jack the Ripper — seine männersüchtige Tante, der Diener, von ihm dieses Mordes bezichtigt, wird verhaftet, er selbst gelangt ins Oberhaus, preist „Gott, den Totschläger“ und ermordet, wieder während einer Umarmung, seine Frau. Was soll's?

Englands herrschende Klasse besteht aus Selbstmördern, Irrsinnigen und Mördern? Weil Jack the Rip-per mutmaßlich dem Hochadel angehörte? Was für ein Unsinn! Auch als Farce aufgefaßt, fehlt dafür die Voraussetzung. Tucker, seit vierzig Jahren Diener in dieser Familie, greift die „adelige Scheiße von einer herrschenden Klasse“ an, denn nur ein Prozent der Bevölkerung besitze den halben Reichtum des ganzen Landes. Geht es um die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit? Dieser Tucker ist KP-Mitglied, Trotzkist und zugleich Mitglied der Anarchistischen Partei, er ist fast stets betrunken, stiehlt Silberlöffel und Schmuck. Damit desavouiert Barnes auch ihn, raubt dem Stück vollends das sozialkritische Agens.

Das heißt, dieser Autor nimmt seine eigenen Angriffe gegen die herrschende Klasse gar nicht ernst, er trägt zusammen, was sich an theaterwirksam Verwerflichem, Abwegigem zusammentragen läßt und jongliert damit zum erstrebten Amüsement der Zuschauer. Er bezeichnet ja sein Stück als „barocke Komödie“, nehmen wir das Wort „barock“ im Sinn von abstrus.

Berechtigt grell inszeniert Bernd Fischerauer diese von Martin Esslin übersetzten , nahezu kabarettistischen, auf Effekte angelegten Szenen. Selbstverständlich müßte Rudolf Schneider-Manns Au das Bühnenbild, dem Stück entsprechend, übersteigern, statt eine naturalistisch viktorianische Halle aufzubauen. Uwe Falkenbach spielt mit Intensität das frech Widerwärtige des Jack aus. Ingold Platzer gibt trefflich ein Halbweltdämchen, seine spätere Frau, Margarete Fries, macht das elegant Libertine der Tante glaubhaft. Die Art, wie Ernst Meister den grotesken alten Diener der Gurneys spielt, ist Mache, aber gekonnte Mache.

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