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Das Sattler'sche Gesetz

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Zu den Dingen, die mich schon als kleinen Jungen nachhaltig beeindruckt haben, gehören die Lehrsätze, die Theorien und Axiome, die - mit einem Namen verbunden wie zum Beispiel der Lehrsatz des Pythagoras oder die Einstein'sehe Theorie - vom Genie ihrer Väter künden. Manche tun dies über die Jahrtausende, der Satz des Thaies von Milet über den Peripheriewinkel hat ja schon gut zweieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel, beziehungsweise auf dem Komma; manche waren, wie die Einstein'sehe Theorie relativ jung. Daher vermutlich der Name Relativitätstheorie.

Zwischen dem heißen Begehr, Lokomotivführer zu werden und dem wenig später gefaßten festen Vorsatz, mich zum Indianerhäuptling ausbilden zu lassen, zwischen diesen hehren Zielen erwachte in mir der Wunsch, irgendwann einmal auch mit einem nach mir benannten Gesetz oder Axiom in die Annalen oder doch wenigstens mit einer Sattler'schen Eröffnung in die Schachgeschichte einzugehen.

Mit zunehmendem Alter lernte ich Abstriche machen. Zugführer zu werden reizt mich heute fast gar nicht mehr und auch zum Indianerhäuptling habe ich nicht das Zeug, geschweige denn das nötige Zubehör .

Und Schacheröffnungen? Ich kann mir kaum die geläufigsten merken. die schon aktenkundig sind; für eigene Entwicklungsarbeit reicht es beim besten Willen nicht.

Und mit den Gesetzen und Theorien, mit den Thesen und Axiomen siehts auch nicht rosig aus: Alles, was mir einfiel oder wovon ich zumindest glaubte, daß es mir eingefallen war, alles hatte schon lange vor mir irgendein anderer durchdacht und behauptet und formuliert und mit seinem Na-mehsschildchen versehen. Jedes Axiom, jedes Gesetz, die bescheidenste Theorie, die ich erarbeitete: Alles schon dagewesen!

So ein Gesetz muß etwas grundlegend Einfaches und zutiefst Banales, wie zum Beispiel E = mc2 oder ähnliches mit gebührendem Ernst und Nachdruck feststellen.

Nein, mein Gesetz, „Sattler's Gesetz" mußte doch ein bißchen mehr Biß haben; es sollte etwas ausdrük-ken, was jeder schon selbst erkannt hatte, was jedem einleuchtete wie etwa: Die kürzeste Verbindung zweier Punkte nennt man eine Gerade. Jedem, der einmal seinem Bus nachhechelte, leuchtet dieses Axiom der euklidischen Geometrie ein; er kommt nur nicht auf die Idee, diese Erkenntnis zum Lehrsatz zu erheben. Wäre ja auch etwas spät; Herr Euklid hat einen Vorsprung von über zwanzig Jahrhunderten.

Mein Gesetz sollte in dieser und jeder anderen möglichen Welt bestehen und tunlichst für Jahrtausende, wenn nicht für ewig. Stimmigkeit behalten. Es sollte so sicher sein wie die Behauptung, daß zwei gemeinhin mehr sind als eins.

Nach langen mühevollen Feldversuchen, nach vielen Rückschlägen und bitteren Enttäuschungen, nach beschwerlichen Recherchen und statistischer Knochenarbeit bin ich in der Lage, folgendes zu behaupten und -obwohl Axiome keines Beweises bedürfen! - anhand meines Materials schlüssig zu beweisen:

Es gibt kein Gesetz, kein Axiom, keinen Gedanken, der oder das nicht schon einmal gedacht, nicht schon postuliert, nicht schon irgendwo -und sei es nur als hieroglyphische Graffiti in der Grabkammer des Tut-ench-Amun - festgehalten worden ist. Oder kürzer: Es ist alles schon mal dagewesen!Oder noch treffender in computergerechtem Neuzeitsprech: IF neues Gesetz, GO TO Antiquariat!

Denn selbst diese Erkenntnis, daß alles schon dagewesen ist, ist logischerweise nicht neu, sondern von Ben Akiba, der freilich seinerseits offenbar aus dem Buch der Bücher (Prediger, Kap. I, Vers 9) zitiert.

Wodurch natürlich mein Gesetz letzte Stichhaltigkeit bekommt, da ja die Behauptung, daß es nichts wirklich Neues gibt, schon ihrerseits etwas nicht wirklich Neues ist!

Klar? Klar! Sehen Sie? Jetzt sagen Sie selber: Teufel nochmal, das hätte mir doch auch einfallen können; das könnte jetzt mein Gesetz sein!

Hehe! Ist es aber nicht, ätsch! Sattler war diesmal endlich schneller!

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