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Der Dissident

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Als er zum Fenster hinaussah, ging ihm alles noch einmal durch den Sinn. Die hektische Vergangenheit. Das Düsenflugzeug raste die Rollbahn entlang und hob vom Boden ab. Er sah den Flughafen und die Umgebung rasch kleiner und kleiner werden.

Er war Dissident gewesen. Es war möglich gewesen, ein ruhiges Leben zu führen, im erwählten Beruf zu arbeiten. Er hatte genug verdient, um sein Auslangen zu finden. Was also hatte gefehlt? Bürgerliche Rechte. Freie Meinungsäußerung. Die Freiheit zu reisen, wohin man wollte.

Das Regime hatte unter dem Deckmantel des Anti-Imperialismus eine Expansionspolitik betrieben. Frömmelndes Gerede als Vorwand für kalten Pragmatismus. Er hatte es gehaßt, dieses Affentheater. Die unbarmherzige Sophisterei.

Obwohl da immer die Wahrscheinlichkeit des Beobachtetwerdens sein konnte, war das Regime doch irgendwo außerhalb gewesen. Wenn man sich mit ihm nicht auseinandersetzen wollte, konnte man ea ignorieren. Man wurde in Ruhe gelassen, solange man nichts hörte, nichts redete und nichts sah. Wenn man die Welt in Ordnung sehen wollte, dann konnte man es auch,. Ungerechtigkeit war irgendwie abstrakt. Man sah nichta Auflergewähnliches. Die Städte waren sicher und sauber. Hie und da, Slogans und Photos in Riesenformat. Und dann die Bürokratie. Der Amtsschimmel. Die Formulare und Fragebögen.

Er hatte dieses Abstrakte bekämpfen wollen. Das Ideale hatte ihn angezogen. Er hatte seine Unterschrift unter Manifeste gesetzt, Rundschreiben verteilt. Ein ganz mildes Aufbegehren.

Was das Regime Gegenrevolution nannte, fand im Nachbarland statt. In Wirklichkeit war e,s eine humanistische Bewegung gewesen. Die Männer, 'die dort seine Ideen und Gefühle teilten, hatten das untendrückerische Regime gestürzt und waren nun selbst an die Spitze der Regierung gelangt. Und er hatte gehofft. Er hatte gehofft, daß ihr Geist sich ausbreiten werde, daß dieser Geist in seinem eigenen Land Wurzeln schlagen könnte. Da aber hatte das Regime zum Schlag ausgeholt. Hatte das benachbarte Land brutal unterworfen. Und an Stelle der Regierung ein Regime von Kollaborateuren bestellt.

Aus Protest hatte er an einer kleinen Demonstration teilgenommen. Sobald die Demonstranten jedoch jedoch ihre Transparente entrollt hatten, war die Polizei da. Gummiknüppel schwingend ging sie gegen die Demonstranten vor. Verprügeln, schlagen, stöhnen — und alles war vorbei. Die Demonstranten wurden beschimpft und vertrieben. Wer nicht gehen konnte, wurde weggeschleift.

Kreuzverhör. Folter. Ein manipuliertes Gerichtsverfahren Die Endstation war das Irrenhaus. Injek-1 tionen, kalte Bäder und Elektroschock.

Er war ein Idealist, ein Weltverbesserer, ein Verrückter. Aber während dieser qualvollen Prüfung war es ihm gelungen, genug Geistesgegenwart zu bewahren um zu flüchten, als sich ihm die Gelegenheit bot. Einmal draußen, war er seinen Verfolgern entkommen. Er hatte das Unmögliche geschafft: die Flucht über die Grenze.

Er fand sich in einer freien Gesellschaft, einer Demokratie. Er fand Arbeit in seinem Beruf. Bald konnte er sich ein Auto, eine Wohnung und all dies kaufen.

Auch hier gab es Demonstranten. Sie waren in der Opposition, wie er es gewesen war. Aber für sie war das Paradies jenes Land, aus dem er gekommen war. Diese Revolutionäre sahen in ihm keinen Revolutionär, ganz im Gegenteil. Für Sie war er ein Bourgeois (Hemd und Krawatte waren der Beweis dafür), ein Verräter, ein Faschist. Als er ihnen alles zu erklären versuchte: die falschen Beschuldigungen, das manipulierte Gerichtsverfahren, die Einweisung ins Irrenhaus, hatten sie nur taube Ohren dafür. Das Irrenhaus? Sie hielten ihn für verrückt, weil er das Paradies verlassen hatte. Jene, die ihn verurteilt hatten, wußten, daß er nicht verrückt war. Aber diesen Demonstranten konnte er seinen gesunden Verstand nicht beweisen.

Die freie Gesellschaft? Nicht ganz. Man war zwar frei, aber die Straßen waren nicht sicher. Chaos und Hölle regierten. Auch stimmte es, daß die Regierung korrupt war und die Pol-lizei brutal. Aber man konnte wenigstens frei seine Meinung äußern und sich frei bewegen. Theoretisch wäre es möglich gewesen, die Gesellschaft vom Gesetz her zu verbessern.

Revolutionäre predigen Gewalt, aber nicht als Mittel zum Zweck, sondern um ihrer selbst willen. In Kunst, Literatur, Theater und Film überwog das sadistische Element. Demonstrationen waren Orgien der Gewalt. Gruppen von Demonstranten machten die Straßen unsicher, plünderten, legten Feuer und warfen Bomben Da war auch noch die Gefahr, überfallen und ausgeraubt zu werden. Er hatte bereits beides erfahren. Er erwachte mit blutigem Kopf und leeren Taschen. Er kam nach Hause und fand seine Wohnung ausgeräumt. Soviel stand fest: Wo er hergekommen war, waren die Verbrecher größtenteils inder Regierung zu finden.

Es waren viele Gründe, die ihn endgültig dazu bewogen zurückzukehren Er sehnte sich, ein ruhiges Leben zu führen. Er würde seine früheren Tätigkelten aufgeben. Er würde es ihnen erklären. Und selbst, wenn sie ihn wieder ins Irrenhaus stecken sollten, es wäre dem vorzuziehen, aus dem er eben kam.

Er blickte zum Fenster hinaus. Er sah die grünen und gelben Flecken unter sich. Dann die Rollbahn. Sie wurde größer und größer, bis das Flugzeug aufsetzte.

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