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Der höfliche Schneileser
Im Zug Salzburg-Wien. In Linz steigt ein Mann zu mit wenig Gepäck, dafür einem ganzen Packen Zeitungen. Er nimmt mir gegenüber Platz. Ich zähle unauffällig. Es sind fünf Zeitungen, zum Teil Samstag-Ausgaben, also besonders umfangreich.
Der Mann fängt sofort an zu lesen. Und nicht nur das. Auf das Brettchen am Fenster hat er einen Füller und einen roten „Textmarker" gelegt. So bald er irgendetwas Bemerkenswertes gelesen hat, zieht er rote Streifen überden Text. Darüber hinaus schreibt er mit dem Füller längere Bemerkungen an den Rand, ganze Absätze. Das alles mit einer merkwürdigen Mischung von Gründlichkeit und freudigem Eifer. Und sehr schnell.
Er arbeitet einen Zeitungsteil nach dem anderen durch. Wenn er eine Seite ausgebeutet hat, mit roten Linien und längeren Zusatztexten versehen, reißt er die Seite heraus, faltet sie ordentlich, Kante auf Kante und legt sie auf das Brettchen unter dem Fenster. Der Stapel wächst zusehends. Mitunter lächelt der Mann ein wenig, schüttelt den Kopf, schreibt, streicht an, daß die Seiten fliegen. „Der spinnt", flüstert ein junges Mädchen ihrem Freund zu. Der zuckt die Achseln.
So gut ich es von meinem gegenüberliegenden Platz aus sehen kann, verfolge ich, was der Mann liest. Er liest durchaus nicht nur das Feuilleton, er liest auch den Wirtschaftsteil, Politik und Kultur. Politik, will mir scheinen, besonders sorgfältig. Dann hetzt er wieder weiter durch Autokäu-fe, Stellengesuche und -angebote. Todesanzeigen liest er nicht.
Man wird nervös, wenn man ihm länger zusieht, also versuche ich wegzusehen, versuche zu schlafen. Aber das ständige eilige Rascheln der Zeitungsblätter stört. Kurz vor Wien packt er zusammen. Mit einem Gesicht des Bedauerns. Er hat nicht alle Zeitungen geschafft. Als er mir unaufgefordert meinen Koffer herunterhebt, bedanke ich mich.
„Und jetzt sagen Sie mir bitte noch", frage ich, „weshalb Sieso ein wildes Zeitungsstudium betreiben? Was machen Sie denn mit all den herausgerissenen, angestrichenen und mit Kommentaren versehenen Blättern? Lesen Sie denn das noch einmal?" Er sieht mich freundlich an: „Ich bin ein Krankenhausseelsorger. Da braucht man vieles, über das man mit den Patienten sprechen kann."
„Aber die Politik", sage ich, „Sie haben ja nicht nur Erbauliches angestrichen, sondern auch vieles aus der Politik." „Ich arbeite auch noch mit einer Gruppe von Menschen", erklärt er geduldig, „die sich nicht damit begnügen wollen, immer nur zu räsonieren oder zu resignieren, sondern die sich, zusammen mit mir, Gedanken darüber machen, wie man selbst etwas tun könnte, damit es besser wird. Und da müssen wir uns um die Politik kümmern."
„Danke", sage ich, „ich bin sehr froh, daß ich gefragt habe." Er sagt: „Ich danke Ihnen. Sie glauben nicht, wie gut das tut und was es für Auftrieb gibt, wenn ein fremder Mensch Interesse zeigt für das, was man tut. Das kommt sehr selten vor."
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