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Der Tod des Terroristen

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Er hieß William Reid und wurde 32 Jahre alt. Er starb in Belfasts Academy street in einem grünen Ford-Corsair, der wenige Stunden vorher gestohlen worden war. Er starh an einer einzigen Kugel — in einem von Schüssen durchsiebten Wagen. Er starb für die Freiheit seines Landes. Oder dafür, was er darunter verstand.

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Er hieß William Reid und wurde 32 Jahre alt. Er starb in Belfasts Academy street in einem grünen Ford-Corsair, der wenige Stunden vorher gestohlen worden war. Er starh an einer einzigen Kugel — in einem von Schüssen durchsiebten Wagen. Er starb für die Freiheit seines Landes. Oder dafür, was er darunter verstand.

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Es war Samstagabend. Die Freitag- und die Samstagnächte sind Nordirlands kritische Nächte.

Ein Armeefahrzeug stellte sich quer über die Straße und der 19jäh- rige Army-Fusilier William Storey sprang vom Landrover, um den grünen Pkw mit seinen drei Insassen zu kontrollieren. Er hatte, das Gewehr in der Hand, erst wenige Schritte zurückgelegt, als die Fenster heruntergekurbelt wurden und einer der Insassen aus einer Maschinenpistole zu schießen begann.

Der 18jährige schottische Soldat Steele wurde in Magen und Bein getroffen und schwebte eine Woche später noch immer in Lebensgefahr. Storey erlitt einen Schulterschuß, wahrscheinlich tötete vorher ein Geschoß aus seiner Waffe Reid. Ein zweiter Pkw-Insasse wurde schwer verletzt. Sein Kamerad half ihm auf die Beine, die beiden entkamen. Obwohl unmittelbar nachher das ganze Viertel abgeriegelt und Haus für Haus duxchkämmt wurde, und obwohl die Army in den folgenden Stunden in ganz Belfast Straßen absperrte und Autos durchsuchte, und obwohl zahlreiche Passanten mit erhobenen Händen, Gesicht zur Wand, Aufstellung nehmen mußten und gründlich nach Waffen abgetastet wurden (der Verfasser dieses Berichtes fünf- oder sechsmal), blieben die beiden entkommenen Terroristen verschwunden wie vom Erdboden verschluckt.

Die folgenden Tage standen im Zeichen der Jagd nach einem Mann, von dem man nur wußte, daß er schwerverletzt war und mit größter Wahrscheinlichkeit dringend Spitalspflege benötigte.

Stark gepanzerte Armeefahrzeuge, Patrouillenwagen mit engmaschigen Schutzgittern vor Windschutz- und Seitenscheiben, Soldaten mit schußbereitem Gewehr allenthalben, Fahrzeugkontrollen ohne Rücksicht auf Stauungen in der Hauptverkehrszeit, das war die äußere Fassade einer Menschenjagd, die an den Film „Odd man out“ erinnerte, in dem James Mason einen verwundeten, auf der Flucht vor der Polizei verblutenden irischen Freiheitskämpfer spielte. (Übrigens, dieser Film wurde in Belfast gedreht.) Doch es fehlte das hinter einer solchen furchteinflößenden Passade in anderen Weltgegenden üblicherweise errichtete System von Massenverhaftungen, harten Vernehmungen „Verdächtiger“, Hausdurchsuchungen bei M’ßliebigen, politischem Terror unter vielerlei Vorspiegelungen. Großbritanniens Army in Nordirland, in den Augen des radikalen

Flügels der katholischen Opposition nichts als die Besatzungstruppe einer Kolonialmacht, muß sich von mindestens ebenso radikalen protestantischen Oppositionellen (angeführt von Paisley) nachsagen lassen, sie lasse es an Härte und Bereitschaft zum Durchgreifen fehlen.

Einen Tag vor dem Begräbnis des erschossenen William Reid wurden auf einer belebten Geschäftsstraße Belfasts, mitten im dichten Frühabendverkehr, aus einem vorbeirasenden Pkw Schüsse auf ein Militärfahrzeug abgegeben. Es wurde niemand ‘ verletzt, das verlassene, ebenfalls gestohlene Fahrzeug Minuten später in einer Seitenstraße entdeckt.

Bombenattentate auf Polizeistationen werden nur noch beiläufig registriert, wenn dabei, wie bisher meistens, niemand ernstlich verletzt wird.

Verantwortlich für die Aktionen mit Bomben und Maschinenpistolen ist eine Organisation, die sich im Vorgriff auf die erhoffte Vereinigung Nordirlands mit der südirischen Republik „provisorische Irische Republikanische Armee" nennt (provisorische I. R. A.) und nach dem Kugelwechsel in der Academy street wissen ließ, ihr Mitglied William Reid, „Leutnant der C-Company des dritten Bataillons der Belfast- Brigade“, sei „beim Überfall einer unserer Einheiten auf eine Patrouille der britischen Okkupationsstreitkräfte“ gefallen.

Das Begräbnis des erschossenen William Reid bewies, daß der militante Flügel der I. R. A. kein versprengtes Häuflein verzweifelter Fanatiker ist. Getreu ihrer Devise, den Status quo einzufrieren, der Regierung Rückendeckung für ihre echten oder halbherzigen Reformen zu verschaffen und gewaltsame Konfrontation zwischen protestantischen und katholischen Radikalen auf der Straße mit allen Mitteln zu verhindern, sicherte die Army den reibungslosen Ablauf des Trauermarsches von dem kleinen Haus in der Sheridan Street, in dem William Reid mit seiner Frau und seinen vier Kindern gewohnt hat (der militante Protestant und Exinnenminister William Craig wohnt gleich um die Ecke) quer durch Belfasts westliche Arbeiterviertel zum katholischen Milltown Cemetery.

Es war eine gespenstische Szene. Das Wohnhaus des Toten von Stacheldrahtverhauen und Militärfahrzeugen umstellt. Starke Militäreinheiten mit Plexischilden und -visieren, mit Maschinengewehren und Tränengaswerfern, mit Spezialfahrzeugen, vor deren Kühlern große Stahlplatten zum Zurückdrängen von Menschenmassen montiert waren, überall im

Hintergrund in Bereitschaft. Wo der Trauerzug der 6000 Menschen (oder mehr) protestantische Viertel durchquerte, alle Seitenstraßen in ihrer ganzen Länge abgesperrt: Stacheldraht, Militärfahrzeuge, weit im Hintergrund die protestantische Menschenmenge: Jubelnd, brüllend, Union Jacks und nordirische Fahnen schwingend.

An solchen Stellen fiel ein Teil der Männer, die hinter dem Sarg gingen in einen lauten, betont militärischen Tritt. Ein Teil war uniformähnlich gekleidet: Baskenmützen, blaue

Regenmäntel, schwarze Handschuhe. Sie mußten keine entschlossenen Mienen aufsetzen, sie hatten sie. Sie waren photoscheu, Jugendliche hinderten die von ihren Fahrzeugen aus filmenden Soldaten mit vor den Objektiven geschwungenen Jacken am Photographieren, und am offenen Grab, wo einige auf besondere Anonymität Wert legende Trauergäste bereits warteten, hätte das öffnen einer Kamera an Selbstmord gegrenzt.,

Ein Sprecher verlas die Spender der Kränze und Blumensträuße: A- Kompanie, B-Kompanie, C-Kompa- nie, erstes, zweites, drittes Bataillon — es war eine Demonstration militärischer Macht aus dem Untergrund. Kein Kriminalist schritt ein. Niemand wurde wegen seiner Beziehungen zur I. R. A. verhört. Auch nach dem Begräbnis nicht. Die Army trennt die Streitenden. Aber sie mischt sich nicht ein.

Ein einsamer Dudelsack begleitete den Sarg vom Tor des Friedhofes zum Grab. Die niedergeschossenen Soldaten waren Schotten. „Schottische Mörder hinaus!“ stand ‘auf einer Häusermauer in der Sheridan street Auf dem steinernen Denkmal, unter dem William Reid jetzt ruht, sind die Opfer des irischen Unabhängigkeitskampfes verewigt. Eine lange Liste von Namen. Erschossen, gehenkt mit Todesdaten, vom siebzehnten Jahrhundert bis heute.

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