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Die Flucht vor dem Fest

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Weihnachten ist das anspruchsvollste aller Feste. Kaum ist das Jahr in den Herbst eingetreten, stürzt es auch schon diesem magischen, traumatischen Zeitpunkt mit wachsender Panik entgegen. Die aufdringlichste und vordergründigste Assoziation zur Weihnachtszeit lautet, auf eine moderne Kurzformel gebracht: Streß.

Dabei offenbart schon das Wort „Weihnacht“, lauscht man seinem Klang, das ursprüngliche Wesen dieses Festes: Glanz und Geheimnis, das strahlende Gloria in ex-celsis und das Geborgenheit versprechende Pax hominibus. Das

Von ELISABETH SCHAWERDA

Himmlische verklärt das Irdische wie der Goldhintergrund eines alten Tafelbildes die menschliche Szene im Vordergrund. Es ist das höchste Fest der Christenheit und auch der jährliche Höhepunkt des Familienlebens. Es betrifft sowohl die große religiöse und kulturelle Gemeinschaft als auch die innerste Privatheit.

Zur Kultur des Festes gehört die Achtung vor Traditionen im religiösen, gesellschaftlichen und familiären Sinn. Gewohnheiten, gepflegt und zu Ritualen erhöht, werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben. So wahrt man Kontinuität, bleibt seiner eigenen Kindheit und seiner Herkunft verbunden. So achtet man Zusammenhänge und verbindet das Vertraute mit einer höheren Einheit. Die Sehnsucht nach dem schönen Augenblick harmonischer Eingebundenheit, dessen man sich vielleicht aus seiner Kindheit erinnert, sucht Erfüllung. Und obwohl Weihnachten von den Gesetzen der Konsumgesellschaft tausendfach vermarktet und ruiniert worden ist, ist das alte Weihnachts-Uber-Ich, die ideale Vorstellung und Erwartung vom eigenen Fühlen, noch immer wirksam. Das macht die Menschen empfindlich und begünstigt Konflikte. Die Krise liegt in der Weihnachtsluft, schwebt besonders intensiv über dem Familientisch.

In der Woche vor dem Heiligen Abend beginnt in den Wintersportorten die Zeitspanne der höchsten Preise der Saison. Unter den Gästen befinden sich auch viele Familien mit Kindern. Sie feiern Weihnachten mit den Angehörigen des Hoteliers vor dem Christbaum im Speisesaal, Weihnachtslieder singend, wie üblich. Dann folgt das festliche Abendessen, und später geht man vielleicht zur Mette in die überfüllte Kirche: aus Religion wird Brauchtum, aus Brauchtum touristische Folklore. Die Gäste aus Westeuropa müssen zwar in manchen Häusern auf ihre Gewohnheit zu tanzen verzichten, genießen dafür aber die Besinnlichkeit „österreichischer Weihnachten“. Für die Inländer ist es fast wie zu Hause, nur um jene Vorteile verbessert, um deretwillen sie hier sind.

Das sind vor allem Vorteile für die Frauen. Sie sind dem Weihnachtsangebot des Fremdenverkehrs besonders aufgeschlossen. Es befreit sie von der Hausarbeit, den Familienbesuchen, den gesellschaftlichen Verpflichtungen und den lästigen Christbaumnadeln auf dem Teppich. Es befreit die Erwachsenen von der Verantwortung für das Gelingen des Festes, das Sache des Hoteliers und im hohen Preis inbegriffen ist. Die Kinder werden mit Schilaufen verlockt. Schon vor dem Heiligen Abend anzureisen bedeutet zwei, drei Tage länger Lifte und Hänge genießen zu können. Man nimmt ihnen ein kleines Geschenk mit, und hie und da gibt es auch Eltern, die einen winzigen Christbaum im Hotelzimmer aufstellen.

Da Weihnachtsurlaube sehr kostspielig sind, nützen sie dem Prestige. Nur selten trübt ein Gedanke die heile Oberfläche dieser Verwirklichung eines Werbeprospektes: Die Großeitern sind allein zu Hause. Das Weihnachts-Uber-Ich meldet sich mit einem Hauch von Bedauern.

Der Nachfrage nach Weihnachten ohne persönliches emotionelles Risiko, in der entspannenden Unverbindlichkeit einer zufälligen Gemeinschaft, die kollektive Stimmung verspricht, ohne individuelle Gefühle zu erwarten, entspricht das Angebot der Wintersportorte. Sie sind ausgebucht.

Ffür radikalere Bedürfnisse, nämlich die der Negation des Weihnachtsfestes, bieten sich die Fernreisen an. Auch sie sind fast ausgebucht. Die bevorzugten Ziele sind heuer die fernöstlichen Länder und die Malediven, während Kenia aus Angst vor Aids eher gemieden wird. Für die Menschen, die solche Reisen buchen, ist Weihnachten nichts als Freizeit, die sie an einem Sonnenstrand verbringen wollen. Der 24. Dezember tritt durch ein besonders festliches Büffet im Hotel des exotischen Landes gastronomisch akzentuiert hervor — als oral regrediertes Festrelikt. Nach den Gründen für solche Reisen zu dieser Zeit befragt, wird nur ein einziger geäußert: Wir wollen dem schlechten Wetter entfliehen. Diese Menschen, meist kinderlos und daher durch keine Rücksicht gebunden, entfliehen der Jahreszeit, der Klimazone, dem Kulturkreis. Ist das Mobilität, Freiheit und Fortschritt?

Weihnachten kann man nur feiern, wann es fällt. „Wir müssen uns fürchten, von uns ist Freude verlangt“, sagt Ilse Aichinger. Wir brauchen uns nicht zu fürchten, wenn von uns nur Vergnügen verlangt wird. Aber die Geborgenheit, die im Herzen aller Weihnacht schläft, wacht nicht auf.

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