Die anderen Neckermänner

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Das trendige Geschäft mit den Träumen einer freizeitbesessenen Welt: "Anders Reisen"; sie wünschen, wir spielen - sei es auch noch so verrückt.

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Das trendige Geschäft mit den Träumen einer freizeitbesessenen Welt: "Anders Reisen"; sie wünschen, wir spielen - sei es auch noch so verrückt.

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Früher war Heinz Hippie gewesen, hatte auf Lesbos heiße Sommer verbracht und über die Akropolis seine Späßchen getrieben. Dann war er unter die Autoren gegangen und hatte einen Reiseführer geschrieben. Und heute ist er Reiseleiter, in einem Alternativreisebüro natürlich. Das Geschäft blüht. Denn Reisen wollen alle, doch Touristen sind immer die anderen ...

Und die scheinen leicht zu identifizieren: Das sind doch diejenigen mit den kurzen Hosen und den großen Kameras, die sich rudelweise durch Shoppingghettos wälzen, oder? Berstende Petersplätze und zackige Wachablösen von Monte Carlo bis London sind längst devisenträchtige Realität des vielgeschmähten Massentourismus: Massen von Touristen, die ihren grauen Alltag gegen den Hauch von Leben und Abenteuer auf Zeit eintauschen - oder es zumindest versuchen. Denn es sind viele, die die Strände Floridas oder die Tempel Thailands bevölkern: Geschätzte 500 Millionen werden zur Jahrtausendwende weltweit auf dem Weg ins Urlaubsglück sein. Schöne Ferien und gute Erholung.

Und die stören. Gewaltig sogar. Was gibt es schon Lästigeres als andere Touristen! Nur weg von den Pauschaltouristen, den vielgelästerten Neckermännern, die die Strände Europas zu gesichtslosen Großfeldsiedlungen und seine Kulturzentren zu Self-Service-Imbißstuben umfunktionierten: "Man spricht deutsch", nicht nur auf Ibiza. Also auf zu neuen Geheimtips, die noch "nicht so touristisch" sind, aber derzeit "in", wie uns der Zeitgeist belehrt. Basta.

Denn auch Unmengen von Individualtouristen sind Massentouristen. Und dieser Zustand ist vielfach längst erreicht. Reisen hat Prestigecharakter, heute mehr denn je: doch wie läßt sich's anders reisen, ohne Tante Hanni in Mallorca und dem Sohn des Hausmeisters auf Bali zu begegnen? Die Reiseziele werden rarer, also müssen neue Reiseformen her - entweder revitalisiert oder gleich neu erfunden. Ob Reisestil oder Reiseziel: Was gestern noch trendy war, ist morgen out.

Mit dem Rucksack durch Indien? Machen längst alle. Per Hausboot auf der Seine? Zu viel Verkehr. Helikopterskiing am Südpol? Zu kalt. Lianen-Bungee-Jumping auf Borneo? Zu reißerisch. Es gibt heute fast nichts, was es noch nicht gibt oder bald geben wird im Geschäft mit den Träumen einer freizeitbesessenen Welt. Der Reiz des Abenteuers lockt. Reizende Aussichten: Einbaumfahren auf der Schwechat gefällig? Oder doch Winter-Alm-Schlauchbootrafting am Kuhschneeberg? Sie wünschen, wir spielen - sei es noch so verrückt. Und der Markt ist noch lange nicht gesättigt. "Man muß eben kreativ sein", meint Heinz süffisant, "unter der richtigen Etikette kaufen die Leute alles". So unrecht hat er nicht. Das Schlüsselwort heißt "Anders", das sowohl in (Reiseführer-)Verlagsnamen wie Reiseangeboten inflationär vertreten ist und das Unbehagen mit "All-inclusive-tours" von Tunesien bis Trinidad zum Ausdruck bringt - Sun, Sandwich und Surflehrer inbegriffen. Doch viele wollen mehr als Sonne und Sand. Wirklich anders reisen nämlich. Doch wie?

Der Erlebnistourismus boomt. Und die Vision der Ganzheitlichkeit dazu. Ganz schön gerissen, die zwei Ebenen zu verbinden. Wenn die Kulisse dann noch exotisch klingt, steht dem Erfolg der Reise nichts mehr im Wege - zumindest dem des Veranstalters. Die Suche nach der großen Freiheit wird so erfolgreich kanalisiert wie westliche Grundbedürfnisse kommerzialisiert: Individualismus, Sinnsuche und Selbstbestätigung vermehrt in exotischem Umfeld auszuleben, macht die Sache noch reizvoller für die Reisenden und die Bereisten noch gereizter.

Längst ist selbst in "GeoSaison", einer der wichtigsten Tourismuszeitschriften, die Rubrik "Urlaub für die Seele" eingerichtet; lange schon erfreuen sich die Ashrams in Nordindien regen Zuspruchs, und Yoga-Workshops und schamanistische Trance-Tänze lassen die Kassen der göttlichen Meister (des Kassierens) klingeln. Daß auch der deutschsprachige Markt nicht schläft, beweist die "Magisch-Reisen"-Serie des deutschen Goldmann-Verlages: 18 gut verkaufte Bände, Tendenz steigend. Aus den esoterischen Einzelangeboten ist ein wohlorganisierter Tourismuszweig geworden. Und zwar ohne die spirituellen Wanderschaften der Vergangenheit eigene Zurückhaltung und Askese, meist ohne jedes auch nur versuchte Kulturverständnis. Der Konsumgedanke der bösen Pauschaltouristen scheint nicht wirklich verschwunden. "Heuer gebe ich mir Rishikesh, da waren schon die Beatles, muß cool sein. Voriges Jahr der Voodoo-Kurs in der Karibik war auch super", meint Gunda, Sekretärin aus Kitzbühel, die richtige Touristen nicht ausstehen kann und dem kosmischen Gesamterlebnis dicht auf den Fersen ist. Spätestens nächstes Jahr, wenn sie "ihre Seele in Ägypten fühlen wird", wie der Reiseveranstalter blumig verspricht.

Es ist die Flucht aus dem bürgerlichen Leben, aus westlichen Konventionen, die ein anderes Leben auf Zeit in anderer Umgebung so ersehnenswert macht. Lukrativ für die Makler der Träume. Und beruhigend für das eigene anti-touristische Selbstverständnis. Ein bißchen Revolutionär sein (!), den Unterdrückten kapitalistischer Regime beistehen (?), tagsüber demonstrieren und abends das Müsli im Hotel. Daneben etwas Sightseeing, wann kommt man schon wieder nach Mittelamerika - und überhaupt, "internationale Solidarität ist schließlich kein Tourismus", wie Jens, der etwas angegraute Fahnenträger, betont. Spanisch kann er leider keines, doch wozu auch, "die Armen der Welt verstehen einander auch so". Übermorgen beginnt dann übrigens seine Badewoche in der Dominikanischen Republik. Ohne seine einheimischen Freunde.

Kein Zweifel: (Bewußtes) Reisen ist vielfach problembeladen, verstärkt vor allem in der sogenannten Dritten Welt die latenten Ungleichgewichte und erhöht potentielle interkulturelle Spannungsherde - ob die vielgelästerten Neckermänner oder die hedonistischen Rucksackmenschen, die längst selbst eine subkulturelle Variante des Massentourismus geworden sind. Ist es das kollektive schale schlechte Gewissen, das Gunda und Jens in der Tarnung der Anti-Touristen in die Ferne treibt? Mit oder ohne Einbaum. Doch anders reisen, das ist anders bloß für sie selbst. Und Heinz soll es recht sein ...

Redaktionelle Gestaltung: Michael Krassnitzer

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