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Dokument der Lebenslüge

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Von Henrik Ibsens Schauspielen hat nur ein kleinerer Teil seine Lebenskraft bis in unsere Tage bewahrt. Wenn man diesen in einer adäquaten Aufführung begegnet, staunt man oft, wie gültig sie in den Grundzügen ihrer Problematik noch sind, so sehr sie gesellschaftlich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurzeln; aktueller jedenfalls als die meisten Werke zahlreicher Zeitgenossen, Nachfahren und Epigonen des großen norwegischen Dramatikers.

Zu Ibsens mit vollem Recht bekanntesten und meistgespielten Werken zählt „Die Wildente“, 1884 entstanden. Wie sich der Film auch heute noch mit Ibsen auseinandersetzt, bewies vor etwa drei Jahren der bedeutende englische Regisseur Joseph Losey mit seiner „Nora“-Version. Dessen künstlerische Potenz erreicht der Deutsche Hans W. Geissendörfer, der uns erst heuer eine respektable Filmfassung von Anzengrubers „Sternsteinhof“ präsentierte, nicht. Er verzichtete von vornherein auf eine optische Auflösung und Ausweitung des Dramas, gab ihm also keine spezifisch filmischen Dimensionen, was sich auch vielleicht daraus erklärt, daß sich der WDR an der Produktion beteiligte und somit auch den Anforderungen des Fernsehens Rechnung getragen werden mußte.

Immerhin konnte sich Geissendörfer damit auf die den Charakteren und dem Text innewohnenden Konflikte und Spannungen konzentrieren. „Die Wildente“ ist wie die besten Gesellschaftsstücke Ibsens ein Drama der Lebenslüge, die den Menschen den Weg zu Glück und Selbstverwirklichung verbaut. Personifiziert wird sie hier in Hjal-mar Ekdal, der aus der kleinen Welt eines Photographen in die große eines berühmten Erfinders aufsteigen möchte, nicht zuletzt, um seinem unschuldig in die Diffamierung gestoßenen Vater, einem ehemaligen Offizier, wieder zu Geltung und Selbstachtung zu verhelfen. Aber Hjalmar ist nicht der Mann, welcher der Wirklichkeit standhalten kann, und so zerbricht seine Welt an der idealistisch gemeinten Wahrheitsfindung seines Jugendfreundes Gregers Werte, als ihm dieser enthüllt, daß seine berufliche und ehrliche Basis auf dem abgefeimten Spiel seines reichen Vaters beruht Das tragische Opfer der Verstrickungen wird Ekdals 14jährige Tochter Hedwig, die auf Gregers' Rat dem Vater ihre geliebte Wildente als Opfer einer selbstlosen Liebe darbringen soll, sich aber schließlich selbst an Stelle des Tieres setzt.

Der Erfolg einer Aufführung der „Wildente“ wird immer wesentlich davon abhängen, wie gut man die schwierige Rolle des Hjalmar Ekdal besetzen kann. Peter Kern ist leider ein höchst unzulänglicher, äußerlicher und vergröbernder Interpret dieser Figur, und somit ist der Film dramaturgisch aus dem Gleichgewicht, um so mehr als Bruno Ganz als Gregers und Heinz Moog als der alte Werte das ganze Gewicht ihrer Bühnenpersönlichkeit einsetzen können. Vieles macht auch die kleine Anne Bennent gut: hier konnte man den Part der Hedwig Ekdal endlich einem echten Kind anvertrauen, das mehr Begabung zeigt als alle deutschen Filmkinder der letzten Jahre. Gut auch ihr Vater Heinz Bennent in der Rolle des realistischen Arztes Dr. Relling, für den Ideale nur Lügen sind. Unverständlich hingegen der Einsatz des Hollywood-Stars Jean Seberg - sie debütierte 1957 in Premingers Filmfassung von Shaws „Heiliger Johanna“, die in der eher kleinen Rolle der Gina Ekdal durchaus farblos bleibt.

Trotz der angeführten Mängel darf man zusammenfassend feststellen, daß in Geissendörfers ernsthaften Bemühungen um ein gutes Stück der dramatischen Weltliteratur doch die Vorzüge überwiegen. Und mit einiger Freude darf man registrieren, daß an diesem Film auch eine österreichische Produktionsfirma beteiligt war.

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