6536837-1946_20_08.jpg
Digital In Arbeit

Ibsen und das Wiener Theater

Werbung
Werbung
Werbung

Wie Shakespeare und Grillparzer gehört der große norwegisdie Tragiker und Wahrheitsucher Henrik Ibsen, der am 23. Mai 1906 starb, und den sein Volk wie einen König zu Grabe trug, der ganzen abendländischen Welt, auch uns Österreichern. In Wien hat man sich vielleicht nie einer so betonten Ibsenverehrung hingegeben wie etwa in Berlin, aber innerlich hat sich der nordische Dramatiker seit der Jahrhundertwende die Herzen unserer Besten erobert. Es ist kein Zufall, daß einer der führenden philosophischen Kritiker des Dramas im Vorkriegs-Wien, Emil Reich, der leidenschaftliche Künder Grillparzers und Ibsens war. In der Tat, es besteht eine heimliche Seelenverwandtschaft zwischen dem Wiener Dichter und dem Norweger, ein gemeinsames Lebensideal, das beide einte und das auch vielleicht die beiden Völker eint: ein unerbittlicher Drang zum Bekennen und Erkennen der Wahrheit. Grillparzers einziges Lustspiel, das ja besser eine Komödie hieße, „Weh dem der lügt“, fordert ebenso die unbedingte Wahrheitsliebe, ist ebenso eine „Komödie der idealen Forderung“ — und gleichzeitig von Skepsis gegenüber dieser Forderung erfüllt —, wie das dramatische Werk des reifen Ibsen-

Was aber Ibsen uns Österreichern besonders nahebringt und uns ihn neben Grillparzer stellen läßt, ist seine meisterhafte Psychologie. Wien,' dieses Zentrum psychologischer Begabung in Europa, hat stets das subtile Können des Psychologen Ibsen zu schätzen gewußt. Und dieses besondere Verständnis für die Kunst der Ibsenschen Menschenzeichnung hat das literarische Wien auch davor bewahrt, in den Modechor einzustimmen, daß - Ibsens Kunst veraltet sei. Heute aber mutet Ibsen moderner an denn je. Und es ist charakteristisch, daß unser Burgtheater einen seiner größten Triumphe in den letzten Jahren mit Ibsens „Gespenstern“ erringen konnte. Dieser Triumph indessen verpflichtet das Burgtheater, verpflichtet das Wiener Theater überhaupt.

Das Burgtheater führt in seinem Spielplan neben den „Gespenstern“, in denen sich vor allem Ewald Baiser als ein grandioser Ibsenspieler erwies, noch Ibsens L'art-pour-l'art Stück „Hedda Gabler“. Sonst aber wird keines der Dramen des Norwegers augenblicklich gespielt. Und es ist cht bekannt,

daß die Burg oder eh anderes der Wiener

Theater für die nächste Zeit eine Ibsen-Neueinstudierung plant. Und doch gibt es einige Werke, deren / Wiederbelebung unseren Theatern neue, mächtige Impulse geben konnte.' „Rosmersholm“ mit seiner Forderung des Adelsmenschen, „John Gabriel Bork-man“, „Wenn wir Toten erwachen“, vor allem aber das dramatische Gedicht „Brand“, die Tragödie des Alles oder Nichts, würden, daran kann kein Zweifel sein, zu unerhörten Publikumserfolgen werden; werden doch in ihnen die Fragen aufgeworfen, die nach den gewaltigen Katastrophen der letzten Jahrzehnte, nach der Gefährdung des Humanen durch eine sittlich abgestumpfte Epoche des seelischen Chaos, die Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen. Und bringen sie doch jene intellektuelle Souveränität mit, die man so oft, selbst bei so genialen Dichtern wie Strindberg, vermißt. Das Burgtheater hätte dabei das Glück, eine Reihe von Künstlern zur Verfügung zu haben, die geradezu prädestiniert sind, Ibsensche Gestalten zu verkörpern. Noch einmal sei hier auf Herrn Baiser hingewiesen, der sowohl als Rosmer als auch als Brand, vor allem aber in dieser Rolle, vielleicht im ganzen, deutschen Sprachgebiet keinen Rivalen tu fürchten brauchte. John Gabriel Borkman aber könnte nach dem Kaiser Rudolph im „Bruderzwist“ und dem König Philipp zur bedeutendsten Rolle Raoul Aslans werden. Daß „Peer Gynt“ und die „Kronprätendenten“ zu viel szenischen Apparat verlangen könnten, dies ist einzusehen. Aber die vier oben genannten Werke verlangen gebieterisch eine Wiener Renaissance.

Auch die „Insel“, deren Direktor Leon Epp im ersten Spieljahr so viel literarischen Wagemut gezeigt hat, sollte sich an eine Ibsenaufführung heranwagen. Die Aufführung von Strindbergs „Ostern“ hat erkennen lassen, daß gerade diese Bühne über Schauspieler verfügt, die an der Darstellung von Ibsendramen ausreifen könnten. Die unvergleichliche Dialogkunst Ibsens würde das Ensemble der „Insel“ für die schweren Aufgaben schulen, die es zu bewältigen sich vorgenommen hat, der Nuancenreichtum der Sprache Ibsens würde — um nur ein Beispiel zu nennen — einen Schauspieler wie Herrn Elger jene selbstverständliche Beherrschung der Gesten, jene Ausgeglichenheit finden lassen, die für das moderne Problemstück,

aber auch für das klassische Drama, so notwendig ist. Eine Bühne, die Claudel und Lessing, Tschechow und Strindberg in ihrem Spielplan führt, darf nicht an Ibsen vorbeigehen.

Es gibt ein Werk des nordischen Tragikers, das tatsächlich nicht für die Bühne geeignet scheint: „Kaiser und Galiläer“. Aber vielleicht fehlt nur der große Regisseur, den diese schwierige Aufgabe zum Wagnis verlocken könnte. Dramen brauchen indessen nicht unbedingt aufgeführt werden, es gibt auch die Möglichkeit einer Lesung. Und vielleicht wäre es interessant, wenn einmal der Versuch unternommen würde, dieses gewaltige Doppeldrama zu neuem Leben zu erwecken. Sicherlich ist ja'gerade „Kaiser und Galiläer“ zeitgebundener in seiner Gedankenführung und ideellen Problematik als die anderen Werke Ibsens, aber es ist andererseits doch ein gewaltiges Dokument der geistigen Auseinandersetzungen des neunzehnten Jahrhunderts, eine grandiose Spiegelung der heißen Kämpfe, die in der Generation unserer Großväter Europa erfüllten.

Vieles verbindet den österreichischen Menschen mit den kleinen germanischen Völkern des Westens und Nordens. Jeder, der einmal das Glück hatte, die skandinavischen Nationen kennen zu lernen, wird diese Ähnlichkeiten feststellen können. Wenige führende Menschen des nordischen Geisteslebens aber stehen uns in ihrem Denken und in ihrer Psychologie so nahe, wie der norwegische Tragiker Henrik Ibsen, dessen Werke uns heute, nachdem Jahrzehnte schwerer seelischer Erschütterungen über uns hinweggegangen sind, ebenso ergreifen, wie sie ▼or inem halben Jahrhundert schon unsere Großväter und Väter ergriffen haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung