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„Dramaturg - was ist das?”

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Das Theaterpublikum kennt die Namen der Schauspieler, der Autoren und bestenfalls noch der Regisseure und Direktoren. Von all den anderen Menschen, die an einem Theater ebenfalls tätig sind und ohne deren Arbeit der Vorhang nicht aufgehen könnte, hat der Theaterbesucher meistens kaum eine Ahnung. Die FURCHE wird daher fallweise Persönlichkeiten vorstellen, die in ihrer Gesamtheit den vollen Reichtum der Theaterberufe repräsentieren.

Vor einigen Jahren wollte eine Wiener Lehrerin wissen, welchen Beruf die Väter der Kinder in ihrer Klasse wohl hätten. Die Tochter des Volkstheater-Dramaturgen Heinz Gerstin- ger sagte: „Mein Papa ist Dramaturg!” Die Lehrerin: „Aha, was ist denn das?” Gerstinger: „Wie ihr das die damals Neunjährige erklärt hat, weiß ich nicht…!”

Tatsächlich ist der Dramaturg jener Mann im Theaterbetrieb, dessen Aufgabe sich am schwersten definieren läßt. Dies teils wegen der Komplexität seines „eigentlichen” Aufgabenbereiches, aber auch, weil er an vielen Bühnen keineswegs nur Aufgaben im Sinne der lexikalischen Definition seines Berufes (Meyers-Enzyklopädischem Lexikon zufolge ist er „litera- tur- und theaterwissenschaftlicher Berater am Theater”) zu lösen hat.

Der Dramaturg kann vieles sein. Ein kleines Rädchen - oder die Stütze des Hauses. Ein hochgeschätzter Spezialist für das Einrichten anders nicht spielbarer Stücke - oder Programmredakteur, Geburtshelfer der Autoren, Organisations-Feuerwehr und Stük- kebearbeiter in einer Person. Heinz Gerstinger kennt jede dieser Situationen, repräsentiert in seiner heutigen Stellung den Dramaturgentypus mit umfassendem Verantwortungsbereich, der an den meisten österreichischen Theatern und an vielen Bühnen der Bundesrepublik vorherrscht. Das heißt, wo also die Organisation noch keine monströsen Ausmaße angenommen hat. Er ist sozusagen „idealtypisch” für diese Art von Dramaturgen.

„Idealtypisch” ist er außerdem für den engagierten Theatermann einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg gerade noch in seiner vollen Länge (und Härte) erlebte und nach der Rückkehr mit heute außer Kurs gesetzten Idealen an die Arbeit ging.

Die Familienverhältnisse - genau von der Art, die Menschen mit dem schrecklich-schönen Drang zum Theater hervorbringt. Der Vater: Bauernsohn und Altphilologe, ein prinzipientreuer Mann. Die Mutter musisch, Tochter eines Buchhändlers ohne geschäftlichen Erfolg, weil er, der Familiensaga zufolge, „die Bücher las, statt sie zu verkaufen”. Das vor dem Krieg begonnene Geschichtsstudium wurde nach dem Krieg mit der Theaterwissenschaft vertauscht, „weil ich zuviel Geschichte erlebt hab’”.

Heinz Gerstinger ist ein Wiener, den es für zehn Jahre nach Graz verschlug, wo er zwei Jahre das Hochschulstudio geleitet, inszeniert und selbst gespielt, ein Hörspiel und ungezählte Rundfunksendungen geschrieben hat und schließlich am Schauspielhaus Dramaturg geworden ist. Das ist er geblieben: einige Jahre in Augsburg, dann einige Zeit am Burgtheater, wo er sich mit Direktor Hoffmann, der ihn geholt hatte, hervorragend, mit Klingenberg dafür überhaupt nicht verstand.

Im Volkstheater sitzt er jetzt auf dem idealen, für einen Menschen mit vielfältigen Interessen maßgeschneiderten Platz - nicht mehr, wie an der Burg, „ein Beamter unter vielen”, sondern im Zentrum eines abwechslungsreichen, aber überschaubaren Arbeitsbereiches, wo jeder die Ergebnisse seiner Tätigkeit unmittelbar erlebt. Das Lesen eingereichter Stücke, die Spielplanplanung, die Werbung, das Halten von Einführungsvorträgen, die Programmredaktion - das alles gehört zu seinem Aufgabenbereich.

Bekanntlich hat Gerstinger gemeinsam mit dem Regisseur Erich Margo eine Bühnenfassung des „Radetzkymarsch” von Josef Roth hergestellt - ohne ein einziges Wort, das nicht von Josef Roth stammt. Er hat ein paar Bücher geschrieben — über Calderön, über Lope de Vega, über „Theater und Religion heute”. Er ist Vorstandsmitglied der Berliner „Dramaturgischen Gesellschaft” (schon seit 10 Jahren). Vor allem aber ist er ein Dramaturg von jener Art, die sich als Geburtshelfer der Autoren versteht.

Rund 600 Stücke pro Jahr landen auf seinem Tisch. Nur ein winziger Bruchteil kann gespielt werden. Zwei Drittel dessen, was einlangt, kommen von den Theaterverlagen. Das „menschlich Interessante” ist der Rest - von dem sich freilich vier Fünftel sofort als dilettantisch entpuppen. Alte Menschen bringen ihre Jugenddramen. Junge Menschen hoffen, mit einem Bauernschwank ihr Glück zu machen. (Wenn sie eine Ahnung vom „Reichtum” etablierter Autoren hätten!) Aber: Manchmal sitzt dem Dramaturgen dann doch einer gegenüber, von dem er das Gefühl hat: Von dem könnte einmal etwas kommen. Auch und gerade, wenn das, was er gebracht hat, noch nicht taugt. Der „Jesus von Ottakring” der Studenten Pellert und Korherr wurde so entdeckt - von Gerstinger.

Viele Menschen drängt es zum Theater. Viele erleiden Schiffbruch. Manche haben Erfolg - aber einen ganz anderen als den erträumten. Zum Beispiel, indem sie Dramaturgen werden. Säulen des Theaterbetriebs, Geburtshelfer des Kommenden - auch wenn die Lehrerin in der Schule etwas ratlos fragt: „Dramaturg - was ist das?”

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