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Ein Frühlingstag im Weinberg

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Der lange Winter war zuletzt eine Last. Die Menschen unserer Zeit haben sich ein künstliches Ersatzleben geschaffen, sie wähnen sich vom Wechsel der Jahreszeiten unbeeinflußt: Zu reißend ist die Flut der Nachrichten, zu vielfältig das Angebot derber Unterhaltung. Unregelmäßigkeiten im zyklischen Jahresablauf machen sich dennoch durch Störungen des Nervensystems bemerkbar. Die Seele duckt sich. Ängste, die nicht benannt werden können, trüben das Bewußtsein. Die Ratio flieht zur einfältigen Hoffnung, Ursachen der unverständlichen Beklemmung im sozialen Gefüge aufdecken zu können.

Der Mensch kann aber, so scheint es, der Natur nicht entrinnen. Sie holt ihn ein, holt ihn zu sich zurück. Proteste des Intellekts nutzen nichts. Je lauter der Lärm der Außenwelt, umso bestimmender die Schläge eines gleichsam unterirdischen Trommeins. Das Dröhnen ist unüberhörbar, unkontrollierbar. Der Griff zum Knopf des Fernsehgerätes mag die Bilderflut entfesseln, ihre Inhalte erreichen nicht die Tiefe des Gemüts. Wenn die Ärzte von Wetterfühligkeit spre chen, verharmlosen sie das Ausmaß der Krise. Hier rührt sich Tellurisches. Das Buch Genesis erhellt den Zusammenhang: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem.“ Es ist an der Zeit, wieder Erdboden unter den Füßen zu haben.

Der Weinberg ist zu dieser hellen Stunde des Vormittags menschenleer. Im Dorf werden die Pflüge vorbereitet, die Zugmaschinen überprüft. Der Kalender für Winzer vermerkt zum Frühlingsbeginn: „Die Ruhezeit der Reben ist zu Ende, der Saft beginnt zu steigen, und die braunen Knospenschuppen fallen ab.“. Aber die Weinstöcke wirken noch leblos; noch tritt die Wiederkehr der Fruchtbarkeit nicht in Erscheinung. Kein Wunder, der ter- rassierte Abhang führt in beachtliche Höhe empor. Dort oben steht winterlich abweisend der Wald.

Man sagt, die Rebstöcke am Waldrand liefern den kräftigsten Wein. Seine Stärke liegt nicht im hohen Alkoholgehalt, sondern im Geschmack. Das Holz ist knorrig, die Formenvielfalt ausgeprägt

Der Anblick besagt, daß die Kulturpflanzen hier mit widrigen Naturkräften in ständigem Kampf stehen. Die Herausforderung härtet ab, zwingt zugleich zur Verfeinerung der inneren Anlagen. Der Vergleich mit der Formung des menschlichen Charakters drängt sich auf: Wer danach trachtet, die Bedrohung durch das Tragische aus dem Bewußtsein zu verdrängen, züchtet Idioten.

Der Blick von hier erfaßt einen bedeutenden Abschnitt des Stromes. Das ruft den Aufbruch während des fleißigen 18. Jahrhunderts ins Gedächtnis. Damals wurden die Ufer reguliert. Auwälder verschwanden, Sümpfe konnten in Ackerland verwandelt werden. Der Nutzen war offensichtlich: der Ernteertrag stieg an, zugleich verringerte sich die Gefahr tödlicher Seuchen. Uber die Marschrichtung gab es keine Zweifel.

Unsere Zeit hat es schwerer. Die Mittel, die zum Einsatz gebracht werden können, sind mit denen des 18. Jahrhunderts verglichen gigantisch; im selben Maße vervielfachen sich die Folgen des Eingriffs. Die Grenze zwischen

Segen und Gefährdung ist kaum noch zu bestimmen. In solchen Lagen macht sich das Subjektive stärker bemerkbar: Die eigene Veranlagung sucht und findet das passende Argument. Die Fachdiskussion bedient sich einer ruhigen, der Sache angemessenen Sprache, aber in Wirklichkeit stehen Gefühle einander gegenüber: hie Zuversicht, dort Angst oder Vorsicht. Nach der Zeit der Technokraten müssen sich die Erneuerer den Ängstlichen anschließen; das ergibt seltsame Allianzen.

Wo das Gefühl die Sachlichkeit verdrängt, ist Verständigung kaum möglich, die Auseinandersetzung wird als Glaubenskrieg geführt. Das Vertrauen in der Verläßlichkeit der Wahrheitsfindung verschwindet, alles und nichts ist möglich. Unsicherheit gerinnt bald zum bestimmenden Lebensgefühl, Verantwortungslosigkeit führt zur Illusion innerer Freiheit. Die neueste Architektur bringt den Seelenzustand zum sichtbaren Ausdruck; sie bedient sich aller Stilrichtungen der vergangenen Zeiten.

Die geschlossene Wolkendecke bewegt sich. Wo sich die eine

Dunstmasse von der anderen loslöst, entstehen Lücken, die sich rasch erweitern. Ein heftiger, Wind muß wohl am Werk sein; man sieht bereits einzelne Wolken, die mit großer Geschwindigkeit gegen Südosten ziehen. Noch kämpft sich das Sonnenlicht durch wechselnde Schatten; auf jede Erhellung folgt eine Trübung; das Bild scheint zu pulsieren. Endlich steht der Strahlung nichts mehr im Weg, der Weinberg glüht auf, die Wärme streift wie ein lebendiges Wesen über das Gesicht. Turmhelme, manche Dächer der Stadt am Strom übernehmen die Strahlung; die Kuppel des langgestreckten feingegliederten Barockbaus auf dem Hügel gegenüber scheint zu blühen; das Wasser selbst spiegelt, freilich vielfach gebrochen, das Blau des Himmels.

Das Schauspiel vermag die winterliche Starre des Fühlens nicht gleich zu lösen; die Beklemmung der letzten Wochen, zur Gewohnheit geworden, bleibt belastend. Aber die Sohle berührt bei jedem Schritt den weichen Böden des Weinbergs. Das vertraute Gefühl weckt die Lebenskräfte. Bald wird das zarte Grün der ersten Triebe erscheinen.

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