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Ein Kloster für Rußland

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Ein Beispiel für den neuen Kloster-Boom in Rußland steht in der kleinen Stadt Stupina, 80 Kilometer südöstlich von Moskau. Seit dem orthodoxen Osterfest, Ende Mai dieses Jahres, sind sechs Nonnen neu eingezogen. Die 22jährige Maria ist Äbtissin des neuen Frauenklosters.

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Ein Beispiel für den neuen Kloster-Boom in Rußland steht in der kleinen Stadt Stupina, 80 Kilometer südöstlich von Moskau. Seit dem orthodoxen Osterfest, Ende Mai dieses Jahres, sind sechs Nonnen neu eingezogen. Die 22jährige Maria ist Äbtissin des neuen Frauenklosters.

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Nach einer zweistündigen Zugfahrt bringt mich Vater Boris mit seinem Lada die restlichen Kilometer zum Marienkloster. Hinter einer verschlafenen Straßensiedlung liegt es direkt neben dem Fluß Oka. Der erste Anblick zeigt nicht viel davon, daß hier neues Leben eingezogen ist. Die Klostermauern sind zugewachsen, teilweise vom Erdreich verdeckt. Eine der drei Hauptkirchen ist noch ohne Dach. Teile der Anlage sind verfallen. Neben den Klostermauern türmt sich der riesige Schotterberg eines Kieswerks, fast um der Landidylle noch einen sozialistischen Anstrich zu geben. Maria und ihre Mitschwestern geben dazu in ihrer orthodoxen Ordenstracht den Kontrapunkt. Vor dem Eingangstor heißen sie uns willkommen.

Unter Iwan, dem Schrecklichen soll dieses Wehrkloster als südöstliche Befestigung des Moskauer Fürstentums angelegt worden sein. Bald steht die 500-Jahrfeier der ersten schriftlichen Erwähnung ins Haus. An die fünfzig Mönche wohnten hier und unterhielten bis 1917 eine große Landwirtschaft. Gleich nach der Oktoberrevolution wurde das Kloster aufgelassen, die Mönche ausquartiert. Nach einigen Jahren mußte auch die Kirche schließen, und das Kloster wurde zu einem Wohnheim für Straßenarbeiter der benachbarten Auto-brücke über die Oka. In den 30er Jahren folgten die Arbeiter der neu entstandenen Tupolew-Flugzeugwerke in Stupina als Bewohner nach. In die Kirchen wurden Zwischendecken eingezogen, um sie besser bewohnen zu können, der Hof samt der heiligen Quelle wurde zubetoniert, die Sakristei ein Waschzimmer. Ein Eckturm des Klosters wurde 1941 zu einem Betonbunker umgebaut. Er bleibt wohl ewig ein Zeuge dafür, daß damals deutsche Panzereinheiten bis auf vierzig Kilometer heranrückten. Iwan, ein gelernter Kunsthistoriker und Leiter der Restaurierungsarbeiten, ist davon überzeugt, daß das Kloster nur wegen dieser Nutzung bis in die sechziger Jahre als Gebäudeanlage überlebt hat.

Seit den späten siebziger Jahren gibt es immer wieder Versuche, dieses Kulturdenkmal im Goldenen Ring um Moskau zu retten. Mit dem Ende der Sowjetunion und dem damit verbundenen Aufschwung der Russisch-Orhodoxen Kirche wurde es auch wieder denkbar, die Anlage ihrer alten Bestimmung zu übergeben. Der Andrang ist groß. Das Moskauer Patriarchat hat auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion seit 1985 an die 9.000 Kirchen und über 150 Klöster wieder eröffnet.

Vor allem junge Frauen drängen in die Klöster, sodaß regelrechte Wartelisten bestehen. Die neuen Männerklöster sind nach dem ersten Jahr von fünf bis zehn Männern bewohnt, Frauenklöster von bis zu vierzig Nonnen. So war das Kloster in Stupina vor der Revolution ein Männerkloster. Aufgrund des Andrangs von Nonnen hat das Moskauer Patriarchat beschlossen, es jetzt als Frauenkloster wieder zu eröffnen.

Voll Pioniergeist erzählt die junge Äbtissin von ihren ersten zwei Monaten in der ehemaligen Ruine. Noch vor ihrer Ankunft hatten die Leute der Nachbarschaft eine der drei Klosterkirchen, die Johannes-der-Täufer-Kirche, weiß ausgemalt, um die Nonnen willkommen zu heißen. Die einen liehen den Schwestern ihre Näh-

maschine. Die anderen halfen beim Putzen und Saubermachen. Eine Nachbarin hatte letztes Jahr zu viele Karotten geerntet und brachte sie nun dem Kloster. „Als würde unser Bezirk seine Seele zurückbekommen", beschreibt Swetlana Iwanowa, eine pensionierte Kolchosebäuerin, die Freude der Leute über ihre neuen Nachbarn.

Die ersten Aufgaben hier waren sehr trivial. Ein Ofen mußte installiert werden. Die Schlafzimmer und der Speisesaal wurden tapeziert. Und ein Gemüsegarten wurde angelegt. Aber Mutter Maria betont, dies sei natürlich nur die Außenseite ihres jungen Klosterlebens. Das wichtigste sei, wie in jedem Kloster, das Gebet. Jeder Tag beginnt um sieben Uhr mit einem vier- bis fünfstündigen gemeinsamen Gebet in der Kirche und endet mit einem dreistündigen gemeinsamen Gebet am Abend. Für die Sonntags-

messe kommt Vater Boris aus der Stadt. So wird die halb verfallene Klosteranlage von einer Mischung aus jungem Pioniergeist und alter russischorthodoxer Spiritualität neu belebt.

Die Gesichter der Nonnen spiegeln eine Aufbruchsstimmung wider, welche vielleicht nur eine Kirche entwickeln kann, die jahrzehntelang unterdrückt geworden ist. Alles hier ist alt und neu zugleich. Der Pope weiht an diesem Tag zum erstenmal den Gemüsegarten nach traditionellem Brauch zum Schutz gegen die Schädlinge. Besonders die Kartoffelkäfer sind heuer Ziel des priesterlichen Weihwassers. Im weißen Kirchenraum singen die Schwestern die Choräle der Sonntagsliturgie. Die Leute aus der Umgebung füllen die wieder frisch eingeweihte Kirche. Der Kirchenraum wird auch noch die nächsten Jahre weiß bleiben. Erst, wenn durch jahrelanges Gebet die Kirchenmauern wieder „lebendig" werden, dürfen die Wände, wie in russischen Kirchen üblich, durchgehend mit Heiligenbildern bemalt werden.

Alles hier hat den Schwung eines Neuanfangs. Auch die jugendliche Einfachheit der Schwestern beeindruckt. Während des Mittagessens wird das allgemeine Schweigen vom Choralgesang zweier Schwestern untermalt. Die Kost ist fleischlos. Wenn sie sich im nächsten Jahr vom Eigenanbau ernähren können, soll sie auch biologisch werden. Für Rußland

ist das eine mittlere Sensation. Die Schwestern hoffen, einen Teil der Klostergüter vom Staat zurückzubekommen. Das würde zumindest ihre Existenz absichern.

Was fehlt, ist Geld. Die sechs jungen Pionierinnen werden nur geringfügig vom Kulturministerium unterstützt. Die Kirche hat kein Geld für sie. Sie muß im ganzen Land Kirchen und Klöster renovieren, die ihr vom Staat in baufälligem Zustand zurückgegeben wurden. Dafür fehlen aber die Mittel.

Viele Kirchen und Klöster werden so, wie auch das Marienkloster in Stupina, von Freiwilligen wieder aufgebaut. Die alten Ikonen und Kunstgegenstände sind entweder in Museen gelandet oder verschwunden. Ob die Schwestern wenigstens diejenigen aus den Museen zurückbekommen, weiß

noch niemand.

Ein wenig Geld kommt durch den Verkauf von christlichen Büchern, die die Schwestern mit dem Zug aus Moskau holen, um sie hier zu verkaufen. Auch auf den Verkauf von Kerzen hat die orthodoxe Kirche in Rußland weiterhin ein Monopol. Die eigene Landwirtschaft soll das Kloster großteils autark machen. Ansonsten hofft Mutter Maria auf die traditionelle wirtschaftliche Grundlage der russischen Klöster, auf die Pilger. Aber auch neue Einnahmequellen wollen sich die Schwestern erschließen. Eines der nächsten Bauprojekte wird ein kleines Hotel für Touristen.

Mutter Maria: „Wir wollen weitere Schwestern aufnehmen. Es gibt schon einige Gesuche, aber wir haben noch keine geeigneten weiteren Schlafräume. Dann werden wir einige Werkstätten eröffnen. Zur Tradition der russischen Frauenklöster gehört das Element der Goldstickerei. Und wir möchten auch andere Arten von Handarbeiten wiederherstellen. Wir haben auch vor, eine Schule zu eröffnen. In Stupina gibt es eine erste orthodoxe Schule. Die Schwestern möchten dort die Ikonenmalerei unterrichten. Und für die Pilger und Touristen arbeiten wir an einem Klostermuseum. Wir haben schon reichlich Materialien gesammelt, die wir dann ausstellen wollen."

Beim Wegfahren drehe ich mich noch einmal um. In diesem halbverfallenen Zustand werde ich das Kloster wohl zum letzten Mal gesehen haben.

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