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Eingesparte Zukunft

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Kein Individuum hat die Freiheit, die Natur völlig unparteiisch zu beschreiben. Es bewegt sich innerhalb eines bestimmten Sprachsystems, was automatisch eine bestimmte Interpretation der Welt nach sich zieht. Geschärftes Sprachbewußtsein bedeutet daher ein zutreffenderes, weil vielfältigeres Erfassen des Lebens und seiner Probleme.

Im Alltagsgebrauch ahnt man nichts davon. Uber Sprache wird nicht nachgedacht, wir „benützen" sie selbstverständlich und unreflektiert. Erst beim Erlernen einer Fremdsprache dämmert das Rätselhafte, das Unausdeutbare auf.

Auf der Suche nach „wie sagt man", zeigt sich plötzlich, daß ihr rationalisierbarer Anteil relativ klein ist. Sie erscheint als kompliziertes Gebilde von Regeln, gebildet durch Aktion und Interaktion, die sich theoretisch schwer oder gar nicht formulieren lassen.

Der Fremdsprachenunterricht, wie er sich in den letzten 20 Jahren an unseren Schulen entwickelt hat, baut auf diesen Einsichten auf. Die Folgerung — zur Verzweiflung jener Eltern, die noch an Vokabelhefte glaubten — lautete: Sprache durch Sprechen, durch Nachahmung, durch miteinander Sprechen lernen. Eine der notwendigen Konsequenzen waren kleine Unterrichtsgruppen von höchstens 18 Schülern.

Klassen mit mehr als 32 Schülern, also grundsätzlich alle Ersten, wurden in zwei Gruppen ge-

teilt. Die Erfolge waren deutlich, die Kenntnisse der nach dieser Methode unterrichteten Schulabgänger beachtlich. Bloß, mit dem heurigen Schuljahr treten wir wieder ins sprachunterrichtliche Mittelalter ein. ,

Für das Schuljahr 1985/86 wurde die zulässige Höchstschülerzahl pro Klasse, was ursprünglich alle begrüßten, von 36 auf 30 gesenkt. Keine überfüllten Klassenzimmer mehr. Nur — die Grenze für

die Sprachteilung blieb unangetastet bei 32. Pädagogisch ein Wahnsinn, da diese Maßnahme die ersten Klassen betrifft, und ein Schildbürgerstreich besonderer Sorte, zumal gerade heuer die Arbeit einer Projektgruppe, bestehend aus AHS- und Pflichtschullehrern, zum Tragen kommen soll: ein neues Lehrbuch für die erste und zweite Schulstufe und ein etwas modifizierter Lehrplan, der noch mehr als bisher auf Sprechen und Interaktion setzt — also auf die Arbeit mit kleinen Gruppen.

Die Erklärung des Unterrichtsministeriums lautet: Sparmaßnahmen. Die Direktive kommt vom Finanzministerium, das sich offensichtlich keinen Deut um die Anliegen des Nachbarressorts kümmert.

Just zu dem Zeitpunkt, da Österreich darum ringt, auf wirt-

schaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet nicht den Anschluß zu verlieren, was bekanntlich Hand in Hand geht, wird dort gespart, wo die Zukunft gesichert werden muß: bei der bestmöglichen Ausbildung unserer Kinder.

Weltweite Arbeitsplatzstudien haben ergeben, daß Flexibilität immer wichtiger wird. Der Arbeiter und Angestellte der Zukunft wird wie der Wissenschaftler ständig lernen müssen. Parallel verlaufende Untersuchungen in Ost und West zeigten gleichzeitig, daß Umschulbarkeit auf zwei Pfeilern ruht: auf einer breiten Allgemeinbildung und guten Fremdsprachenkenntnissen. Die Allgemeinbildung gibt's ja noch, mit den Fremdsprachenkenntnissen wird's düster werden in Zukunft.

Unter den Lehrern sind alle unglücklich über diese Entwicklung, im Unterrichtsministerium ist niemand froh darüber. Und im Finanzministerium? Möglich, daß man sich heuer und nächstes Jahr über ein paar eingesparte Millionen freuen wird. Spätestens wenn die heutigen Erstkläßler Schulabgänger und Jobsuchende sind, wird auch dort niemand mehr froh sein können, aber möglicherweise kommt dann jene Einsicht zu spät.

Sparen ist ein Gebot der Stunde. Es bei der Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zu tun, heißt, die Zukunft einsparen zu wollen.

Die Autorin ist freie Schriftstellerin.

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