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Erfundene Vergangenheit

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Der Hofrat gehöre der Abstammung nach zum Gesinde, zum schlechtesten, er habe den bösen Blick, schreibt Hermann Bahr in einem seiner Tagebücher. Und auch sonst wird ihm da nur Übles nachgesagt. Nun, Bahr hatte einen Onkel Anastas, heißt es an anderer Stelle, einen pensionierten Hofrat, Menschenfeind, Weiberfeind, einen bis zur Verschrobenheit scharfsinnigen Mann, der „uns täglich beim Essen so viel vom Segen der Vernunft vorpredigte, daß mir die Person heute noch zuwider ist“, obwohl er sich später in der Donau ertränkte.

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Der Hofrat gehöre der Abstammung nach zum Gesinde, zum schlechtesten, er habe den bösen Blick, schreibt Hermann Bahr in einem seiner Tagebücher. Und auch sonst wird ihm da nur Übles nachgesagt. Nun, Bahr hatte einen Onkel Anastas, heißt es an anderer Stelle, einen pensionierten Hofrat, Menschenfeind, Weiberfeind, einen bis zur Verschrobenheit scharfsinnigen Mann, der „uns täglich beim Essen so viel vom Segen der Vernunft vorpredigte, daß mir die Person heute noch zuwider ist“, obwohl er sich später in der Donau ertränkte.

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Anastas ist auch der Vorname de pensionierten Hofrats Negrelli, de Hauptgestalt in Bahrs Lustspiel „De Krampus“ — Untertitel „Der Her Hofrat“ —, das derzeit vom Volks theater in den Wiener Außenbezir ken aufgeführt wird. Dieser Anasta: erweist sich als ein rechter Krampus dem es höchst merkwürdig erscheint wenn er sich einmal in „aufgeräumter“ Stimmung befindet, der jeder sekkiert, den er gern hat, nie ohn Bosheit auskommt, sich irgendeinma doch erweichen läßt und als Junggeselle seine Paschaallüren mit besonderer Sorgfalt pflegt. Alle zitterr vor ihm, die Schwester, die Nichte der Freund, der Diener Kilian. Zugegeben, es geht um eine simple Heiratsgeschichte, um die Nichte, di sich in einen jungen Kerl verlieh hat, während der kratzbürstige Onkel ihr den ältlichen Freund zudachte, aber das wird völlig von dei Entfaltung dieses prächtig gezeichneten Charakters überdeckt, an dei man seine helle Freude hat. Das Unbeschwerte, Leichte, an französischer Bühnenautoren geschätzt, bei deutschen kaum zu finden, besaß diesei Österreicher. Die mariatheresiani-sche Zeit, in der das Stück spielt, wird reizvoll spürbar und eben das längst Vergangene hat lebendigen Bezug. Erich Margo trifft als Regisseur durchaus den leichten Lustspielton. Eine schon vom Texl ironisierte Liebesszene müßte etwas weniger, karikiert gespielt .werden Peter Hey bietet als Hofrat eine bis in die kleinsten charakteristischer Einzelheiten lebendige Gestalt, die sich von seinen nicht weniger eindrucksamen Leistungen in anderer Stücken erheblich abhebt. Hey gehört heute zu den profiliertesten Wiener Schauspielern. Margarete Fries, Renate Bernhard und Linda Koch sowie Carlo Böhme heben sich unter den übrigen Darstellern heraus. Tibor Vartok entwarf die beiden reizvollen Bühnenbilder.

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Es ereignet sich Erfreuliches: Eine Kleinbühne, das Cafetheater, erhielt von der Gemeinde Wien eine namhafte Subvention, und nun wurde dem Ensemble auch das Akademietheater kostenlos für eine Sonntagsmatinee zur Verfügung gestellt. An diesem Vormittag sah man das vor mehr als drei Jahren in London ur-aufgeführte Stück „Early Morning“, das vorletzte von Edward Bond, der heute in England als einer der bedeutendsten Dramatiker gilt. Das Cafötheater hatte das Stück schon vor einem halben Jahr im Albert-Schweitzer-Haus dargeboten, nun wurde die Wiedergabe regielich überarbeitet. Den englischen Titel behält man bei, da er doppeldeutig ist, mit „Trauer zu früh“, wie vorgeschlagen, käme dies nicht heraus.

Die Rückwendung zu geschichtlichen Vorwürfen, die seit kurzem zu bemerken ist, deutet sich auch hier an. Damit gilt nicht mehr in gleichem Maß was Dürrenmatt behauptet hatte, daß heute die gefundenen Stoffe durch die erfundenen abgelöst werden. In Bonds Stück „Early Morning“, über das in der „Furche“ vor zwei Jahren, anläßlich der Züricher deutschsprachigen Erstaufführung, ausführlich berichtet wurde, verbindet sich das Gefundene mit dem Erfundenen, gefunden sind die meisten Gestalten — Königin Viktoria und ihr Kreis, die Nightingale —, erfunden ist, was sich da begibt. Zweifellos hat der Dramatiker das Recht, geschichtliche Figuren im Charakter und im Handeln zu verändern, hier aber werden sie dermaßen gewaltsam deformiert, daß die einst existierenden Persönlichkeiten nicht mehr zu erkennen sind, es werden ihnen erfundene Greuel bis zum Kannibalismus aufgeladen.

Wozu dies? Bond will eine grausige Wahrheit dartun, die sich einem heute aufdrängt: Daß sich die Menschen gegenseitig auffressen. Dafür ist diese schaurige Farce eine Metapher. Derlei etwa im Kleinhäusler-Dereich aufzuzeigen würde wenig besagen, es bedarf dazu der Gestalten n staatlichen Spitzenpositionen, aber ;ie könnten erfunden sein. Statt dessen historische Figuren völlig unwahr als Monster darzustellen, er gibt gewiß einen viel stärkere! Effekt, erweist aber auch die ab wegige Lust, Idole dieses Volkes in Unmenschliche abzuwerten. Das gal äs in diesem Ausmaß nicht einma Dei der Darstellung der Johanna vor Drleans durch Shakespeare um Voltaire.

In der Aufführung wird das Historische der Figuren erfreulicherweise wenig spürbar. Das geling lern jungen Regisseur Dieter Haspe ladurch, daß er die Szene gleichsan üs Ritual vorführt: Die Darstellei ragen hellfarbige Hemden unc losen, schlichte Kleider, im Himme' Sikinis, sie sprechen gelassen, kaurr ndividualisierend, die Bewegunger ind meist langsam, erstarren mit-mter, Pantomimisches ist eingesetzt Jeräuschmusik akzentuiert. Das ver-längnisvoll Grausame wird durch iiese Wiedergabe ins Zeitlose ge-ückt. Sonja Burian und Christiane J. Horn, Claus Gillmann und Hagnot llischka agieren mit Talent und vol-zm Einsatz in den Hauptrollen. Das Sühnenbild von Haitger M. Böken eigt über schiefer Ebene eine rosa tintergrundwand mit blauem Bal-achin. Alles in allem eine sehr be-ditliche Aufführung.

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