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Euthanasie der Lieblosen

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InDeutschland, es könnte auch in Österreich, ja in sehr vielen zivilisierten Ländern sein, wurde ein Urteil bekräftigt, das ein Altersheim als Untragbarkeit, als Belästigung bestätigt und fern besserer Wohngegenden ansiedelt. Jedesmal wenn mir eine verschweißte Klars ich tpak-kung aus der modernen Nahrungsmittelindust rie in die Hand kommt, fällt mir mein Mütterchen ein und die Mühe, die es sie gekostet hätte, an das Gewünschte mit eigenen Kräften heranzukommen.

Jedesmal, wenn ich der Verbleibsekunden des Fahrstuhles inne werde, denke ich an ihr operiertes Hüftgelenk, das zwar einen Lift nötig machte, aber seinem Rhythmus nicht zu folgen vermochte. Die Ampelintervalle der Kreuzungen, die Trittbretthöhe, die Schwere der Einlaßschranken der U-Bahnein-gänge, die, wenn sie auf ein unsicheres Greisenbein zurückfederten, dieses zerschmettern wurden, der Kraftaufwand beim Offnen und

Schließen der Hotelwasserhähne, oder das Gewicht der Bank- und Sparkassentüren, diese und unzählige andere Ereignisse, die den Alten zum Bittsteller, zum Almosenempfänger von Überlebensgesten herabwürdigen, scheinen mir im Gegensatz zu einer elitären Forschung und deren „Profitcenter senectus“ zu stehen.

Es geht überhaupt nicht um den Betagten, es geht um einen gewinnträchtigen Zweig der Pharmaindustrie, der seinen Zuwachs aus der Hinauszögerung eines Lebens erzielt, das oft keiner will. Nicht der Lebenswert wird verlängert, sondern das Leben. Man sucht den Medikamenteschlucker so lange wie möglich warm zu halten, um aus den Institutionen, die ihn wie Kanonen eine Festung umlagern, so lange wie möglich Gewinn zu ziehen.

Der Alte ist eine Pfründe einer sich an ihm orientierenden Industrie, ebenso wie das Neugeborene, wobei man letzteres als künftigen Steuerzahler eher verhätschelt. Eine durch und durch feindliche Industrie, angefangen von der dem Alten schwer leserlichen engen kleinen Schrift der Zeitungen bis zu den Sauerstoffmasken in den Flugzeugen, die nicht auf sein Gesicht passen, bis zu den Haushaltsgeräten, die er nicht bedienen kann, bis zu den ärztlichen Untersuchungen, denen er sich nicht widersetzen darf, bis zu den Banken und Pensionsanstalten, die er persönlich aufsuchen muß, bis zu den Fernsehfilmen, die weder seine Bedürfnisse noch seine geschwächte Folgemöglichkeit berücksichtigen, verflucht ihn jeden Tag aufs neue, bis er endlich unter den forschen Expertenhänden flotter Krankenschwestern zwischen dem einen und dem anderen Turnus sein Leben aushauchen darf und ein schnippisches „Ist was?“ mit achtloser Pulskontrolle und „Mhm“ das Ende bestätigt. Dies alles heißt klar und jenseits aller Heuchelei: wir wollen unsere Alten nicht. Ja, der Sohn mag, schätzt und sorgt wohl für seine Mutter, aber schon die alleinlebende Greisin nebenan ist ihm völlig fremd. Das gemeinsame Stück Mensch, das ihn auch mit ihr verbindet, reicht gerade noch, den Kohlekübel einen Stock höher zu tragen, aber schon Wasserflecken auf dem gemeinsamen Flur hat eine weißhaarige Wehrlose mit tage-, wochenlanger Grußlosigkeit zu bezahlen.

Geschöpfe, die sich für jedes Parkabenteuer die letzten vorstehenden Härchen aus den Brauen zupfen, werden zu Megären, wenn sich ein bettlägriger Neunzigjähriger nach siebzehn Uhr noch einmal beschmutzt. Altem war nie selbstverständlich und die Ufer, an denen die Gerontologie uns ausgesetzt hat, sind uns neu und unheimlich. Wir haben noch nicht gelernt, mit Alten, Betagten umzugehen, zumal mit manchen Wehrhaften. Es geht wieder einmal ums Ein- und Zuordnen statt Unterordnen. Es geht darum, Strukturen zu überdenken und Entscheidungen zu treffen, die einDrittel, wenn nicht mehr, unserer Bevölkerung angehen

Aber nichts geschieht, nicht einmal Marmeladegläser werden angepaßt, nur die Sprache. Als Senioren weiß unsere Sprache die Alten zu ummanteln, so wie sie in ihrer Verlogenheit Feiste vollschlank, Trunkene angeheitert, Schrot Vogeldunst und gezielte Todesschüsse finalen Rettungsschuß nennt. Senior Abraham und Seniorin Sarah, Senior Moses im pflegeleichten Wollüberwurf am Höhenkurort Sinai den Betagtensitz des Single Gott erwandernd - so klänge es in einer zeitgemäßen Bibel.

Wir sollten endlich redlich werden. Das ganze Euthanasiegeschwätz, das wieder einmal im Gange ist und weder in Italien - und zwar nicht aus Rückschrittlichkeit - noch in Spanien, der Schweiz, Polen oder sonstwo denkbar wäre, es ist ja längst überholt. Wir haben sie ja längst, die Euthanasie der Lieblosigkeit, die Sterbehilfe an gebrochenem Herzen.

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