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Fast ein Marstheater

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Karl Kraus hat von seiner Monster-Tragödie „Die letzten Tag der Menschheit” geschrieben, sie aufzuführen würde zehn Tage respektive Abende in Anspruch nehmen und ein Marstheater — also wohl auch ein Theater von außerordentlichen Dimensionen brauchen. Trotzdem ist es immer wieder versucht worden, eine solche Aufführung zustande zu bringen, gelegentlich auch Lesungen, und obwohl bedeutende Teileindrücke entstanden — einen wirklichen Eindruck des Werkes bekam man bisher nie vermittelt.

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Karl Kraus hat von seiner Monster-Tragödie „Die letzten Tag der Menschheit” geschrieben, sie aufzuführen würde zehn Tage respektive Abende in Anspruch nehmen und ein Marstheater — also wohl auch ein Theater von außerordentlichen Dimensionen brauchen. Trotzdem ist es immer wieder versucht worden, eine solche Aufführung zustande zu bringen, gelegentlich auch Lesungen, und obwohl bedeutende Teileindrücke entstanden — einen wirklichen Eindruck des Werkes bekam man bisher nie vermittelt.

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Dies ist nun zum ersten Mal in das Verfremdung. Als ob die Auf- Basel geschehen. Dort hat der öster- führung nicht schon verfremdet reichische Regisseur Hans Hollmann, genug wäre.

der schon ausgezeichnete Inszenie- Zum Lobe Hollmanns sei bemerkt, rungen in Basel und auch in Deutsch- er hat zwar kräftige Striche gemacht land vollbracht hat, daneben auch — das war ja auch unbedingt nötig sehr und mit Recht umstrittene, das — aber das Entscheidende kommt Werk herausgebracht. Hollmann ver- doch heraus. Und kommt so eindeu- zichtet, vielleicht mehr der Not als tig klar heraus, daß selbst die Basler, dem eignen Trieb gehorchend, auf die doch des wienerischen Dialekts eine Bühne, eine sogenannte Guck- nicht mächtig sind, die Szenen ver- kastenbühne. Er läßt die Tragödie stehen, in denen rein Wienerisch, oder, um der Wahrheit die Ehre zu wenn nicht Ottakringerisch gespro- geben, vielleicht den vierten Teil der chen wird.

Tragödie, an zwei Abenden abrollen, Erstaunlich und höchsten Lobes und zwar im Foyer des neuen Basler würdig ist übrigens, wie Hollmann Stadttheaters. Der eigentliche Thea- es verstanden hat, die ja fast durch- tersaal, also sowohl Zuschauerreaum wegs nicht-österreichischen Schauais auch die mit den letzten techni- spieler auf Wiener Mundart zu dril- schen Finessen ausgestattete Bühne, len. Ferner: da in dem Stück ja dau- bleiben ausgespart. ernd gegen die damaligen Zeitungen.

(Über dieses Theater wäre allein polemisiert wird, läßt er immerfort ein längerer Aufsatz zu schreiben, und ohne daß sie etwas sagen. Mit- Der bis vor vierzehn Tagen vorge- glieder seines Ensembles mit Zei- sehene neue Intendant ist plötzlich tungen auftreten und langsam über zurückgetreten, weil die Stadt ihm die Treppe schlendern — oder Zei- gewisse Schwierigkeiten machte, und tungskolporteure ihre Überschriften die bestanden nicht so sehr im Finan- ausrufen. Und zwar je schlechter sie ziellen, wie das in den Zeitungen zu werden, das heißt je ungünstiger für lesen war, als vielmehr darin, daß den Kriegsverlauf, um so leiser wer- dieser neue Mann, aus Deutschland den sie ausgerufen. Das ist eine kommend, die Stadt und den Kanton, großartige Idee und verstärkt die die beiden Geldgeber des Theaters, Untergangsstimmung, durch Engagements von zahlreichen Die Rolle des „Nörglers”, in der DDR-Künstlern und die Annahme Karl Kraus sich selbst porträtierte, von DDR-Werken links überholen wird von Michael Rittermann dargewollte — und dies ausgerechnet in stellt. Er ist vielleicht eine Idee zu Basel!) … nun, vielleicht nicht gerade.

Aber zurück zu unserer Auffüh- pathetisch, aber doch eher heraus- rung. Sie findet also im Foyer statt, fordernd, nicht so skeptisch-böse wie das heißt im Foyer und um das Karl Kraus selbst die Rolle so oft Foyer und um das Foyer herum vorgetragen oder vorgelesen hat. sitzt das Publikum rauchend und Immerhin eine Leistung, die im Ge- Kaffee trinkend an kleinen Tischen, dächtnis haften bleibt.

Der Raum bleibt leer, wird gelegent- Großartig auch, wie Hollmann die- lich bespielt, noch viel öfter aber ses Riesenspektakel beendet. Nicht wird die immense Treppe bespielt, etwa mit einer „großen” Szene, son- die in unzähligen Stufen hinauf — dern: Der „Nörgler” spricht doch oder herabführt. einige Male davon, daß er ein Stück.

Also keine (oder doch so gut wie schreibe, nämlich „Die letzten Tage keine) Requisiten oder Dekorationen, der Menschheit”, in dem dies alles aber ein Thron, -einmal ein Tisch, vorkomme, was hier geschieht. Und einmal eine Schulklasse mit Bänken ganz folgerichtig läßt Hollmann oder sogar eine Mini-Drahtseilbahn, seine Aufführung damit enden, daß Doch neunzehn Zwanzigstel des der „Nörgler” an seinem Schreibtisch Stückes oder besser dessen, was von sitzt und die letzten Zeilen des Nachdem Stück übrig geblieben ist, spie- spiels einfach liest. Er endet mit den len sich auf der Treppe ab. Worten: „Das habe ich nicht ge-

Eine sehr einleuchtende, weil ge- wollt!” wollt unrealistische Auffassung — Eine, wie gesagt, außerordentlich wie könnte man denn auch diesen einprägsame Aufführung, die Karl Kraus realistisch darstellen? Es stärkste, die man bisher gesehen hat. gibt nur zwei Einwände, die zu Ein Wurf, ein großer Wurf. Man machen wären. Einmal dauert die wird diese Aufführung, die schon aus Sache sehr, sehr lange. Am ersten finanziellen Gründen — die Proben Abend vier, am zweiten Abend drei allein haben ein Vierteljahr gedauert Stunden. Aber dafür kann ja der und fast das gesamte Basler Regisseur nichts. Für den zweiten Ensemble beschäftigt — nicht allzu Fehler der Aufführung ist er ver- oft geben können. Man ist fast verantwortlich. Er läßt nämlich zahl- sucht, eine Kunstfahrt nach Basel zu reiche Männerrollen von Frauen empfehlen.

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