Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
„Fleisch kommt“
In Kronstadt — Brasov heißt es auf Rumänisch — patroullieren Polizisten in Fünfergruppen, mit Maschinenpistolen bewaffnet. Bis zum „Tag der Befreiung Rumäniens“ vom Hitler-Faschismus ist es nicht mehr lang. Die Behörden wollen offensichtlich jegliches Anzeichen einer Unruhe im Keim ersticken.
Spannung liegt in der Luft. Und das drohende Gespenst neuer Repressionen. Wie der Dorfzerstörungsplan des Conducators. Dabei ist das Leben der Siebenbürgener ohnehin schon hart genug. Denn die Versorgungslage ist seit dem Vorjahr alles andere als besser geworden.
Noch sind die Unruhen vom November 1987 (FURCHE 53/1987) den Kronstädtern in frischer Erinnerung. 20.000 Leute sollen am 15. November auf die Straße gegangen sein.
Ein Rumänien-Deutscher erzählt, wie nach seinen Informationen die Geschehnisse ihren Lauf genommen hatten. Zu einem Aufstand der Frauen sei es auch gekommen, schildert der alte Mann. Aufgebrachte Mütter seien mit ihren Kindern zum lokalen Parteisitz gekommen und hätten Ceausescu-Bilder und Fahnen von den Wänden gerissen: „Füttert ihr doch unsere Kinder“, hätten die Frauen geschrien.
Bereitwillig zeigt der alte Mann seine Lebensmittelkarte her. Jeder Rumäne hat täglich auf 300 Gramm Brot Anspruch, theoretisch auf ein Kilo Mehl und ein Kilo Zucker pro Monat. Doch seit fünf Monaten hat er kein Mehl mehr bekommen. Eine ganze Reihe von Gütern ist rationiert, auch die Energieversorgung.
Theoretisch gibt es dreimal jährlich — zu den großen Feiertagen - Fleisch, insgesamt drei Kilogramm pro Kopf. Zum 1. Mai erhielt unser Siebenbürgener ein halbes Kilo Fleisch, am „Tag der Befreiung“ wäre die nächste Ration fällig. Wie sie wohl aussehen wird?
Dabei geht es ihm noch relativ gut. Ein anderer Passant erzählt, er habe seit Jahren kein Fleisch mehr gesehen. Der Ruf „A venit carnea“ (Fleisch kommt) ertönt immer seltener.
Für Touristen ist in den für sie reservierten Ausländerhotels gesorgt; auf ihrer Speisekarte steht auch Fleisch. Ein Blick in die Lebensmittelläden gibt jedoch darüber Aufschluß, was die Einheimischen zu essen bekommen. Karotten, Spinat, Bohnen, Erbsen, alles in Dosen; ferner Tomatenmark und Nudeln, ebenfalls abgepackt. Keine Frischware. Hingegen jede Menge Alkohol: Wodka, Likör, Vermouth, Weißwein, sogar zwei Sorten Sekt - bei den exorbitanten Preisen sind sie zum Ladenhüterdasein verurteilt.
In Hermannstadt, dem rumänischen Sibiu, bettelt ein Greis um Lebensmittel. Er ist überglücklich über Fischkonserven, die im Wagen die Rumänienreise mitgemacht haben. Mit einem umständlichen altösterreichischen Handkuß bedankt sich der alte Mann für das Geschenk. Seine Pension von 650 Lei, das sind etwa 1.600 Schilling, reiche nicht zum Durchkommen, entschuldigt er sich. Er ist auf Pakete von Freunden aus Deutschland angewiesen. Aber diese verschwinden oft, vor allem, wenn sie mit deutschem Ortsnamen versehen sind.
Die Vertreter der deutschsprachigen Minderheit scheinen im Umgang mit Fremden weniger Angst zu haben als ihre ungarischsprachigen Mitbürger. Relativ unbefangen, so als hätten sie nichts mehr zu verlieren, unterhalten sie sich bisweilen mit westlichen Touristen.
Die Rumänien-Ungarn scheuen hingegen den Kontakt mit Ausländern, so scheint es. Oder fühlen sich die Deutschsprachigen nur sicherer in der Erwartung, daß die Bundesrepublik Deutschland sie massenweise freikaufen will? Der fragwürdige Menschenhandel hat Nicolae Ceausescu schon viel Geld eingebracht.
Und dennoch: So traurig das entbehrungsreiche Leben der Siebenbürgener Ungarn und Sachsen stimmt, so beeindruckend sind die unverfälschten Landstriche und Dörfer, die wie ein lebendiges Freilichtmuseum anmuten.
Tausende davon wird es bald nicht mehr geben, wenn Ceausescu sie zugunsten „agro-industriel-ler Zentren“ schleifen läßt. Es wäre nicht sein erstes Verbrechen wider die Kultur des eigenen Staatsvolkes. 1984 fielen in Bukarest ganze Stadtviertel mit wertvollen Baudenkmälern der Spitzhacke zum Opfer.
Nach der Hauptstadt ist nun das Land an der Reihe. Am 5. August sind bereits Bulldozer im Dorf Korond eingetroffen. Die 5.000 Einwohner zählende Ortschaft in Siebenbürgen fällt unter den neuen „Raumordnungsplan“.
Bei der Ausreise aus Rumänien drei Stunden peinliche Befragung nach Kontakten im Land. Unsere Kontaktpersonen in Budapest wußten schon, warum sie die Namen von Freunden und Verwandten nicht preisgaben.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!