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Form und Emotion

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Mit 78 Bronzegüssen und 32 Zeichnungen, Aquarellen und Ölstudien wird im Museum des 20. Jahrhunderts das Werk eines Bildhauers gezeigt, der zwischen 1914 und 1930 einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der europäischen Plastik leistete und im vergangenen August seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Es handelt sich um den 1891 in Litauen geborenen Jaques Lipchitz, der ab 1909 in Paris studierte und dort Picasso und Juan Gris kennenlernte. Unter ihrem Einfluß — dem Einfluß des synthetischen Kubismus — schuf er, nach Plastiken, die anfangs im Banne eines Neoklassizismus gestanden waren, Köpfe, Figuren und, als Reliefs, plastische Stilleben in einfachen blockhaften

Formen, die sich um eine „simultaneity“ — die Zusammenfassung mehrerer Ansichten — bemühten und deren Flächen er manchmal auch polychrom bemalte. Über die Ausbildung von Positiv- und Negativformen gelangte er um 1925 zu „offenen“ Skulpturen, bei denen der Fluß der Linien und die Öffnungen in den Raum wichtiger wurden als die plastischen Massen.

Ab 1928 erhielt Lipchitz eine Reihe von Aufträgen, die von ihm Arbeiten in monumentalen Ausmaßen verlangten. Zur gleichen Zeit begann sich seine Plastik in Form und Inhalt zu verändern. Die strenge kubische Geschlossenheit wandelte sich bei ihm mehr und mehr zu einem immer freier werdenden räumlichen Spiel, und die disziplinierte Analyse ging in die Verwendung von evokativen, assoziativen Formen über, die — selbst vieldeutig — Metaphern bildeten. Manche Plastiken dieser Jahre, wie die idolhafte „Figure“ (1926 bis 1930), zeigen eine gewisse Affinität zum Pariser Surrealismus der Zeit, während „Das Liebespaar — Der Schrei“, „Der Harfner“, „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ und „Mutter und Kind“ in einer oft nahezu symmetrischen Anlage aus den Formen ein übergeordnetes neues Ganzes im Sinne einer literarisch poetischen Aussage bilden.

Damit beginnt bei Lipchitz eine fließend bewegte Phase seiner Plastik, die „barocke“ Elemente und expressive Tendenzen vertritt, wie auch die ausgezeichneten Zeichnungen und Entwürfe beweisen, die mutuis mutandis die Tradition des Hochbarocks aufzunehmen scheinen, großes Vorstellungsvermögen und ästhetische Sicherheit zeigen und zu den besten Bildhauerzeichnungen der Zeit zu zählen sind. Diese Tendenzen verstärken sich noch nach der 1941 erfolgten Flucht aus Frankreich in die Vereinigten Staaten. Der dramatische Spätstil des Bildhauers, der nun mehr und mehr Themen aus der Mythologie und der Bibel aufgriff, versucht die assoziative Verwendung von Naturformen und durch aus ihnen emotionell gestaltete symbolische Lösungen auf den Beschauer unmittelbar zu wirken. Von 1955 etwa an beginnt sich die Oberfläche stärker aufzulösen, Gegenstände werden in die Plastik einbezogen und ein gewisser Manierismus entsteht, der aber immer noch zu so überzeugenden Leistungen, wie die aus Anlaß der Überschwemmungskatastrophe von Florenz geschaffenen Kleinplastiken, fähig ist.

Die Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts gibt einen ausgezeichneten chronologisch geordneten Überblick über die bedeutende Leistung des Bildhauers, die dort am stärksten erscheint, wo er im Gefolge des Kubismus wirklich neue pla- stisch-spatiale Lösungen über das Verhältnis von Form und Raum findet und dort, wo sich Form, Inhalt und gebändigte Emotion zu einer neuen Aussage und zu einer plastischen Einheit verbinden. Eine sehr beeindruckende und sehenswerte Ausstellung.

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