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Frage

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Anläßlich der Wiederaufführung einiger alter Filme von Ingmar Bergman im Fernsehen erhebt sich die Frage, ob die Schweden Europäer sind, und wenn ja, inwieweit. Wer von uns verstünde nicht portugiesische

Saudade, sizilianischen Mord- comment, oder die von slawischen Völkern hochgezüchtete Komik des Schreckens? Wer von uns wüßte nicht, daß sich hinter dem Tamwort von der doulce France staunenswerte Hartnäckigkeit und hinter britischem Eigensinn die Angst vor der nächsten Invasion versteckt, die, wenn schon nicht vom Kontinent, so doch vom Mars her, am Ende doch erfolgreich sein könnte. Wer von uns aber versteht Schweden, dessen dünn besiedelte Landfläche, anders vermessen, von Wien bis Algier reichen würde und das, nur durch die schmale Wasserstraße des Öresund von uns getrennt, Seit Jahrhunderten keines der europäischen Schicksale geteilt hat —? (Hinter hohen Grenzbergen beginnt Norwegen und der Atlantik mit all seinen Abenteuern der Schiffahrt in fremde Zonen.) Wer von uns versteht Schweden mit seiner zugleich abgeschafften und. innig geliebten Monarchie, seiner verstaatlichten Kirche, die an Gott zweifelt, wer versteht diese Kühltruhe Gottes, in der sich die Aufklärung des IS. und. der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts erhalten haben, als sei nichts geschehen — und es geschah ja auch wirklich nichts — und als müßte nun die übrige Welt zu diesen Errungenschaften vm vorgestern: bekehrt, werden?

,,Schreie und Flüstern“ jetwa, diese künstlerisch hervorragende technisch perfekte Ballade über Nichtigkeiten, die den Zuseher zu Tode langweilen müßten, wären sie nicht, wie bei Bergman unvermeidlich, mit zwei oder drei magenaushebenden, mit dem vollendeten Können einer dekadenten Kultur servierten Abscheulichkeiten garniert, deren Begründung man als Europäer keinesfalls einzusehen vermag. Denn jede dieser Seelenverknotungen hätte beim Fallen der ersten Fliegerbombe, beim ersten Auftauchen eines fremden Soldaten, bei der Vertreibung vom angestammten Heimatboden und beim notgedrungenen Eintauschen von Schmuck gegen Butter ihr natürliches Ende gefunden. Auf welchem europäischen Schloß, welchem Bauernhof, in welchem Bürgerhaus hätte man es jemals gewagt, die Magd, die ein krebskrankes Familienmitglied gepflegt hat, nach dessen Tod auf die Straße zu jagen? Wer solches tat, wäre unter seinesgleichen geächtet gewesen und tat es schon deshalb nicht. Soziales Mißverstehen entsprang hierzulande immer noch und allemal aus gegenseitiger Angst. Angst, die kaum Zeit ließ für das Hätscheln seelischer Abgründe.

Freilich, wie Bergman derlei Abgründe ins Bild bringt, das muß man gesehen haben und spießbürgerliches Kopf schüttelngilt da nicht. Wer wie er brächte es fertig, vier oder fünf verschiedene Rot ineinander zu komponieren, ohne daß sie einander schlügen, wer wie er vermöchte Damen in verwaschen hellen Jugendstilkleidem unter berüschten Sonnenschirmen zwischen Birken über verwaschen grüne Wiesen gleiten zu lassen, daß man zu träumen glaubt, während die Echtheit dieser Farben jeder bestätigen kann, der den Norden kennt. Aber niemand sollte uns einzureden versuchen, daß Schweden Europa näher ist als Japan oder Alaska.

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