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Digital In Arbeit

Geh’n Sie zu einem guten Arzt

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Die Abteilungsleiterin war ganz ungerührt und nannte Giselas Situation bedauerlich, ja peinlich. Im übrigen lehnte sie es ab, sich auch nur ein bißchen in ihre Lage hineinzufühlen. „Ihre privaten Schwierigkeiten und die Erfordernisse im Betrieb sind zwei Paar Schuhe. Sie müssen sich entscheiden, und zwar schnell.“

Gisela war von ihrer Vorgesetzten zu einem Fortbildungsseminar ausgewählt worden. Das bedeutete für sie eine bessere Position in der Firma, eine interessantere Arbeit, mehr Verantwortung, ein höheres Gehalt. Aber unter diesen Umständen? Die Umstände waren ganz natürliche. Die junge Frau war im dritten Monat schwanger.

„Schlagen Sie sich das ganz schnell aus dem Kopf“ , sagte die Abteilungsleiterin. „Senunar und Kind, das geht auf keinen Fall. Die Firma investiert eine Menge Geld in ihre Ausbildung. Wir müssen sicher sein, daß sich das auch bezahlt macht. Wir haben eigentlich nur schlechte Erfahrungen gemacht mit den Kolleginnen, die zu Hause ein kleines Kind haben. Sie haben immer den Kopf beim Kind, wenn sie nach dem Karenzjahr wiederkommen.

Einmal hat es Schnupfen, oder im Kindergarten sind die Masern, oder die Oma ist krank und kann das Tschapperl nicht betreuen.

Ständig kommen diese Mütter mit einem solchen Schmarrn daher und erwarten Rücksichtnahme und Verständnis. Die Firma, meine Liebe, ist nicht für kleine Kinder da. Die Firma braucht verläßliche Leute.“

Gisela gab nicht auf. Auch wenn sie ein Kind habe, werde sie sich so wie bisher für ihre Arbeit einsetzen; sie könne nicht einsehen, warum die Schwangerschaft ihre Teilnahme am Seminar ernsthaft hindern sollte.

„Seien Sie vernünftig, meine Liebe. Gehn Sie zu einem guten Arzt, das kostet kein Vermögen. Ich gebe Ihnen ein paar Tage extra frei, damit Sie sich erholen können. Und in vier Wochen fahren Sie dann auf das Seminar. Sie werden sich doch wegen einem Kind nicht die Karriere in der Firma verbauen.“

Die Entscheidung Kind oder Karriere war nicht das einzige Problem. Vom Vernünftigsein hatte auch Martin gesprochen, als Gisela aus der Ordination der Ärztin gekommen war, schwankend zwischen Freude und Be-stürzimg.

„Jetzt ein Kind?“ sagte Martin. „Das würde unsere Zukunft glatt ruinieren,“ Und er redete von Belastung, von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, von Verantwortung, von der ungewissen Zu-

kunft, und meinte in Wirklichkeit doch nur Ungebundenheit, Karriere, Skiurlaub, Reisen und ein neues flottes Auto. Gisela sollte für diese Art von Leben eine unabhängige Gefährtin sein. „Mit einem Kind ist alles aus. Ich will nicht diesen bürgerlichen Sumpf. Jetzt sind wir jung. Kinder können wir auch später haben.“

Von Vernunft und von der Zukunft sprachen auch Giselas Eltern. Sie müsse auf Martins berufliches Vorwärtskommen Rücksicht nehmen. Und überhaupt: „Ihr habt nicht einmal eine Wohnung. Ohne Wohnung kann man nicht heiraten und schon gar nicht Kinder haben.“

Giselas Einwand, sie könne sich durchaus vorstellen, Martin unter diesen Umständen nicht zu heiraten und ihr Kind allein aufzuziehen, stieß auf blankes Unverständnis. Die Eltern warfen ihr Egoismus und Undankbarkeit vor. „Wenn Du so stur bist, mußt Du sehen, wie Du allein zurechtkommst. Ein lediges Kind? Nicht mit uns.“

Die Abteilungsleiterin wurde ungeduldig. „Haben Sie sich noch immer nicht entschieden? Es wird höchste Zeit. Sie werden Schwierigkeiten kriegen!“ Die Eltern bedrängten sie: „Du hast noch immer keinen Termin bei diesem Arzt? Das kannst Du uns nicht antun!“ Martin versuchte es mit anderen Mitteln: „Sei doch nicht so sentimental. Ich lasse mich nicht erpressen.“

In der Stille des Beratungszimmers konnte Gisela alle ihre Sorgen und ihren Kummer abladen. Sie erzählte von den Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, von den Bedrängnissen in der Firma, von den Bitten und Drohungen Martins und davon, wie allein sie war.,Alle reden von Vernunft, aber sie meinen etwas ganz anderes. Von mir redet keiner, und von meinem Kind schon gar nicht.“

Das schönste Geschenk

Mit Hilfe der Beraterin begab sich Gisela auf den mühevollen Weg der Existenzsicherung. Sie verließ das Elternhaus, fand einen Platz in einer Wohngemeinschaft junger alleinstehender Frauen. Die Eltern blieben unversöhnlich. Martin erklärte, er sei ein freier Mensch, müsse die berufliche Zukunft in den Griff bekommen und verschwand ins Ausland. Die Abteilimgsleiterin strich Giselas Namen von der Seminarliste. „Ihnen ist leider nicht zu helfen!“ Sie ließ durchblicken, daß die Firma nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist auf ihre weitere Mitarbeit verzichten werde.

Jetzt ist Giselas Tochter schon acht Monate alt. Das schönste Geschenk zu ihrem 24. Geburtstag, noch vor Ablauf des Karenzjahres, war eine 30-Stunden-Anstel-lung in einem mütterfreundlichen Betrieb, relativ gut bezahlt, so daß sie das Baby bei einer Tagesmutter unterbringen kann. Schwierig ist für sie die Finanzierung der kleinen Wohnung, die sie gefimden hat. Mit einer Überbrückungshilfe und einem Darlehen wird sie audi diese Hürde schaffen.

Aus der Broschüre „Dem Leben eine Chance“ . Heft 2/87 der JUrtion Leben“ .

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