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Hat Jugend keine Tugend ?

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Der einstige Unterrichtsminister schweigt heute. Nur einmal ergriff er vor kurzem im ,.Volksblatt" das Wort und war mit einem Abdruck auch in der FURCHE einverstanden.

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Der einstige Unterrichtsminister schweigt heute. Nur einmal ergriff er vor kurzem im ,.Volksblatt" das Wort und war mit einem Abdruck auch in der FURCHE einverstanden.

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„So sind halt junge Leut'", sagen manche Eltern, die sich die tagtägliche Auseinandersetzung mit den Kindern ersparen wollen; oder: Sind wir nicht auch einmal jung gewesen?

Jugend hat keine Tugend, zitieren alte Männer, die guten Grund haben, für sich derlei zu reklamieren; und mit der beginnenden Arbeitslosigkeit klagen Mütter die Gesellschaft an, die ihren Kin-

dem keine Arbeit verschaffen kann. Mütter, die nicht ahnen, daß ihre Kinder, Vorhut der „heutigen Jugend", diesen ihren fragwürdigen Lebensstil nicht aus sich produziert, nicht als einen elementaren Ausbruch erlebt, sondern von alten Frauen und Männern eingepaukt bekamen.

Männer, die damit nach 1945 an die Hochschulen kamen, brachten das Neue mit aus den USA, lehrten es zuerst an den Importhäfen des Amerikanismus im deutschen Sprachraum: in Frankfurt am Main, in Bremen, in Berlin. Mit einer bitterbösen Polemik und mit den Methoden der Pornokultur fingen sie an, das verfluchte Adenauer-Regime zu untergraben, um ein rotes Deutschland auch im Westen heranzuzwingen.

Einer der Patriarchen und Propheten des Neuen war der in Frankfurt lehrende Philosoph, Soziologe und Musikkritiker

Theodor Adorno. Er lehrte vielerlei, die Studentinnen und Studenten seiner Vorlesungen schätzten aber vor allem die schrillen Dissonanzen zu dem, was im Adenauer-Deutschland „in" war. Schließlich erging es Adorno nicht besser als anderen Propheten, die Wind säen und Sturm ernten. Eines Tages begann auch in diesem Hörsaal der Protest der Schüler, die sich über dem Lehrer stehend wähnten.

Als barbusige Studentinnen dem Propheten vor dem Pult einen Tanz aufführten, erschütterte das den Lehrer sehr, und man sagt, derlei hätte ihm das Herz gebrochen. Das geschah vor vielen Jahren in Frankfurt.

Als unlängst in Wien nach Jahren wieder unter den Schulkindern die Läuseplage um sich griff, war man schnell mit der Erfindung der Ursache bei der Hand: Es hieß, diese Läuse hätten die „Tschuschen" aus ihrer Heimat im Südosten gebracht.

Hier soll nicht ein Vergleich der Reinlichkeit, wie sie etwa unter Kroaten und Serben daheim üblich ist, mit der in einheimischen Behausungen die Rede sein. Der gegen verlauste Tschuschen gerichtete Vorwurf brach zusammen, als ausgerechnet aus dem Gesundheitsamt der Stadt Wien verlautet wurde, die obwaltende Läuseplage sei — aus Schweden und den USA eingeschleppt worden!

Mit der gebotenen Diskretion deutete der Arzt an, Läuse seien

die Folge mangelnder Reinlichkeitsbedürfnisse — und derlei ist in der Hippie-Generation kein Zeichen für Vernachlässigung, sondern Teil des Ausdruckes eines Protestes gegen obwaltende Zwänge und Mißlichkeiten der sogenannten bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat.

Als Adorno starb, tat sich ein anderer in Westdeutschland erfolgreich am Werk gewesener Patriarch und Prophet der Neuen Linken schon schwer im Kampf gegen einen gewissen „Triebverzicht", gegen „Opfer", wenn nicht gar gegen „Gewalt an sich".

Späte Reue

Dieser inzwischen auch verstorbene Grand Old Man einer Neuen Linken hieß Herbert Mar-cuse. Und er hat 1967, zur Zeit, als ein nie dagewesener Terror, ein Linksterror, die Universitäten der „freien Welt" erschütterte, in Berlin gelehrt, was dort die Jungen machen müßten, um dem schönen Beispiel der „Opposition der amerikanischen Jugend" folgen zu können:

Es brauchte keine neue Ideologie, sondern eine sexuelle, moralische, intellektuelle und politische Revolution. Bemerkenswert an dieser Parole ist, daß Intellekt und Politik hintanstehen. Sex aber an der Spitze.

Der gebürtige Berliner, in den

USA groß und zuletzt in Westdeutschland zum Jugendverder-ber geworden, blieb nicht lange bei seinen prophetischen Lehrmeinungen. Ende 1970 mußte er eingestehen, daß „... die Brutalisie-rung der modernen Gesellschaft ,.. eine unwidersprechliche Beobachtung (ist) ... (und) wäre doch anzunehmen, daß die sexuelle Befreiung der Gegenwart zu einer Abnahme der Aggression führen sollte, zu einer De-aggressi-vierung, doch sieht man Aggressivität bei Gruppen und bei Individuen aufflammen, die eine viel größere erotische Freiheit besitzen und sexuelle Zwänge abgelegt haben."

Nicht zu leugnen ist, daß sich Österreichs Bischöfe eifrig mit den Vorgängen in aller Welt, voran in der Dritten und Vierten, beschäftigen. Die Kirchengänger stolpern leider zuweilen schon beim Betreten oder Verlassen der

Kirche über allerlei Zeugs, das herumliegt.

Als sich vor 100 Jahren die Christen im „katholischen Österreich" beunruhigt fühlten über das damalige „Schweigen der Bischöfe", sagte einer ihrer unruhigen Geister: „Solange unsere Domkapitel nur eine Veteranencompagnie invalider alter Landpfarrer sind, kann selbst ein erleuchteter Kirchenfürst schwer regieren—es sey denn — ein Rudigier."

Rudigier, das war jener Bischof von Linz, der 1869 in scharfen Konflikt mit dem damals in Österreich herrschenden Regime geriet und dafür eine 14tägige Gefängnisstrafe bezog. Franz Joseph I. begnadigte den Bischof.

Heute schießt man auf den Papst, Bischöfe werden von links-und rechtsradikalen Regimen ermordet, aber Österreich ist noch immer für viele Menschen eine „Insel der Seligen"...

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