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„Jesus Christ Superstar“

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Die meist diskutierte, gepriesene und angegriffene „Show“ dieser Saison „Jesus Christ Superstar“ hatte kürzlich ihre Premiere am Broadway. Doch der Weg zu dieser befremdenden Bühnendarstellung des Leidensweges Christi ging nicht von der Kirche aus, sondern vom Plattenstudio — wo zunächst zwei Schallplatten mit obigem Titel erschienen und von denen in wenigen Wochen mehr als 5 Millionen (!) Exemplare verkauft wurden. Bald haben die Erzeuger ihre Schallplattenidee auf die Bühne übertragen.

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Die meist diskutierte, gepriesene und angegriffene „Show“ dieser Saison „Jesus Christ Superstar“ hatte kürzlich ihre Premiere am Broadway. Doch der Weg zu dieser befremdenden Bühnendarstellung des Leidensweges Christi ging nicht von der Kirche aus, sondern vom Plattenstudio — wo zunächst zwei Schallplatten mit obigem Titel erschienen und von denen in wenigen Wochen mehr als 5 Millionen (!) Exemplare verkauft wurden. Bald haben die Erzeuger ihre Schallplattenidee auf die Bühne übertragen.

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Nun hat die Jesus-Welle den Broadway erreicht, und die Vorstellungen sind dank der Kontroverse, die sich seit dem Platten-Debüt ergeben hat, für viele Monate des neuen Jahres bis auf den letzten Platz ausverkauft. Und Abend für Abend halten Theologiestudenten, ordinierte Geistliche, Laien aller Religionsgruppen und die „Jewish Antidefamation League“ Demonstrationen vor dem Theater ab. Sie protestieren gegen die Profanierung des Neuen Testaments, die Degradierung des Begriffes der Religion und gegen Vulgarität, Mißachtung und Respektlosigkeit gegenüber jenen Werten, die vielen Millionen von Menschen seit fast zwei Jahrtausenden heilig sind. Auf den Kassenerfolg und die Aufführung hat dies nicht den geringsten negativen Einfluß.

Der Schrittmacher dieser seltsamen Entwicklung war zweifelsohne die (nicht religiöse) Rock-Oper der englischen Gruppe „The Who". Die bühnenwirksame Übertragung des Neuen Testaments und der Messe ließ nicht lange auf sich warten. Das amerikanische Rockmusical „Godspell“ von Stephen Schwartz und Leonard Bernsteins „Multimedia- Messe“ waren wegbereitend für Tom O’Horgan (dessen erste Regiearbeit „Hair“ in seiner Originalfassung war). Tim Rice und Andrew Lloyd Webber haben eine Schilderung von den letzten Tagen im Leben Jesu auf die Bühne gebracht.

Je nachdem wird der Zuschauer nun dieses Rockmusical als die Basis einer „Religion anno 1971“ ansehen oder als einen Beweis des Verschwindens der westlichen Zivilisation, niemand aber wird leugnen, daß „Jesus Christ Superstar" in der Welt des Theaters eine Erschütterung hervorgerufen hat, die bald auch auf den Bühnen Europas zu spüren sein wird.

Es ist den Arrangeuren also gelungen, aus Jesus Christus, die Hoffnung und das Licht der Welt, einen „Superstar“ zu machen, der allabendlich in einer Silberschale auf die Bühne gehoben und am Ende des Abends, gepeinigt und gekreuzigt

(nicht an einem Kreuz, sondern an einer futuristisch anmutenden geometrischen Form) von einem Baukran aus der Bühne gehoben wird und verschwindet. Die Partitur hat weder Dialoge noch Rezitative, nur lückenlos aufeinander folgende Musiknummern. Im Orchester entfesseln 32 Mann einen orkanartigen Lärm, der für die jugendlichen Zuhörer Balsam für die Ohren zu sein scheint. In taumelnder Verzückung zeigen sie nicht das geringste Zeichen des Erstaunens, wenn alle biblischen Gestalten Mikrophone vor den Mund halten und lange, schlangenartige Kabel hinter sich über die Bühne ziehen, wobei sie stets in Gefahr sind, über dieses Kabelnetz zu stolpern. — Der „Superstar“ wird meist von seinem Gegenspieler, Judas, überstrahlt, einem Neger mit mehr schauspielerischem Talent als der Rest der Besetzung. Alle sind in mehr oder weniger historische Kostüme gekleidet, aber die gesanglichen und tänzerischen Äußerungen sind ganz die der heutigen, jüngsten Generation. Allerdings ist der Komponist Andrew Lloyd Webber ganze 23 Jahre alt und der Verfasser des Textes, Tim Rice ganze 26 Jahre. Beide sind Engländer. (Seit Miniskirt und Beatles kommt die kulturelle Revolution ja aus England.)

Die „Show“ ist als solche „überproduziert“, sämtliche technische Mittel der Bühne sind voll ausgenützt, der Bühnenboden ist gleichzeitig ein Vorhang — eine dreiteilige Wand, die derartige Kunststücke vollführt, daß die Schauspieler akrobatische Sicherheit besitzen müssen, um darauf zu agieren. Die Wand bildet eine gigantische Vertikale, die sich nach hinten senkt und auf verschiedenen Höhen und Winkeln zum Boden wird. In schrägem Winkel (um volle Sicht auf die Tragflächen zu gewähren) balancieren römische Kriegsknechte und der vom eigenen Gewissen verfolgte Judas Ischariot mit halsbrecherischer Geschicklichkeit.

Das gesamte Konzept mit aller Rock-, Soul- und Gospel-Musik ist erschreckend schwach: durch die an gedeuteten zeitgenössischen Assoziationen stellt man Jesus als radikalen Anführer dar, der versucht, das Gesicht der Welt zu ändern und sich gegen das „Establishment“ aufzulehnen. Das Wunder der Wiederauferstehung scheint in diesem Konzept und in der Religion anno 1971 überhaupt nicht akzeptabel zu sein. Der Abend schließt mit der Kreuzigung und dem Tod — als ob diese das „tragische Ende“ sei…

Man kann nicht umhin, mit den Demonstranten vor dem Theater zu sympathisieren. Die Religion hat ihre festverankerten Grundlagen in der Kirche — die Bühne eines „Musical“ ist ihr fremd. Ein Passionsspiel, oder selbst ein Film, mögen manche Szenen des Alten oder Neuen Testaments dem Publikum nahebringen —

aber dieser visuelle Alptraum in „art nouveau“, schlimmer als ein Hollywood-Super-Regisseur der alten Zeit es hätte herbeizaubern können (auch Dalis „Kreuzigung“ ist reines Gold gegen dieses goldverkleidete Golgotha) mit psychedelischer Beleuchtung, grotesken Figuren und primitiven Dialogen … wird dies nie bewerkstelligen. Religion eignet sich nicht für Busineß, noch weniger für Showbusineß.

Aber diejenigen, die den Respekt vor der Religion nicht verloren haben, trotzdem man mit der geschickten Auswertung biblischer Stoffe weit mehr als dreißig Silberlinge verdienen kann, alle diese sind altmodisch und passen wohl nicht mehr in unsere Zeit…

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