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Katzengeschichte

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Die Alte Roma sitzt an der Cestius-Pyramide und füttert die Katzen. Die Alte Roma, schwer- fällig, früher rothaarig - sie hat wilde Haare gehabt, Locken wie aus Draht, jetzt hat sie sie abschnei- den lassen; welcher Friseur hat es gewagt die Haare der Alten Roma abzuschneiden? hat er gewußt, wem er da die Haare schneidet? was hat er mit den Haaren getan? - jetzt ist sie weiß, sitzt an der Mauer und füttert die Katzen.

Es sind viele Katzen, manche treiben sich unten herum am Fuß der Pyramide - GAICESTII EPU- LONIS SEPULCRUM - oder im Friedhof dahinter - JULIUS AU- GUST WALTHER VON GOETHE unter anderen, es steht aber nur GOETHE FILIUS dort, als wäre er selber nichts gewesen... oder war er nichts sonst? und „If thy cheris- hed name be ,writ in water'..." - und liegen auf den künstlich umge- stürzten Säulenstrünken (gemach- te Reliquien; gibt oder gab es Tor- sobildhauer? wie Ruinenbaumei- ster?), nur fünf Katzen sitzen oben und fressen das, was ihnen die Alte Roma hinlegt. Sie war vorher drau- ßen an der Via Ostiense und hat in den Hallen der Märkte um Fleisch- abfälle gebeten. Ein freundlicher Metzger hat ihr in einem Plastik- sack Kutteln und Mägen und Euter und dergleichen gegeben. Pralles Blut - der Alten Roma ist nichts unappetitlich, und die Katzen fres- sen es gern.

Es sind fünf Katzen, zwei erwach- sene und drei junge. Die eine junge Katze ist ganz räudig an der einen Flanke, aber sie frißt, und das heißt, daß sie vielleicht durchkommen wird.

Goethes Vater war in Rom, hat seine Begeisterung für diese Stadt seinem Sohn vererbt. Was der Auf- enthalt Goethes in Rom für ihn bedeutet hat, das hat er selber so freimütig wie wenig sonst beschrie- ben. Was für ein Geflecht von Be- deutungen: Flucht, Zuflucht, Ar- cadien, Iphigenie, der Katholizis- mus, Hin- und Wegstreben, die Sehnsucht, das Licht im Vergleich zum trüben Norden. Eigentlich wollte Goethe in Rom bleiben. Er ist nur nach Weimar zurückgekehrt, da bin ich sicher, um ein paar Dinge zu ordnen und dann unverzüglich und für immer nach Rom zu ziehen. Da ist Christiane Vulpius dazwi- schengekommen und unmittelbar danach Walther von Goethe (der erst viele Jahre später rechtens diesen Namen führte), und dieser August von Goethe, dieser seltsame Schatten ist - der dritte Goethe - nach Rom gefahren und ist dort geblieben: hier an der Pyramide des Cestius. „Home is where the heart is" steht - auch hier, ganz in der Nähe von Goethe Filius' Grabstein - auf dem des Dichters und Malers Francis ScottBradford(1898-1961). Auch Goethes Heimat also.

Die Alte Roma sitzt auch am Colosseum. Die wackeligen, oran- genen Wägen der Straßenbahnli- nien 13 und 30 knarzen hierum die Kurve. Die Alte Roma sitzt vor dem Cafe Martini. Sie wühlt in ihren Taschen - sie hat viele Taschen bei sich, alle sind prall voll - und schich- tet ihre Habseligkeiten um. Einige Katzen sitzen unten zwischen den Resten der Substructuren der Gla- diatorenschule. Sie liegen da wie Gladiatoren nach dem Training. Sie sind froh um die Kartons, die ir- gendwelche Schmutzfinken hinun- tergeworfen haben. Die Katzen lie- gen lieber auf den Kartons als auf dem Gras. Manchmal kommt die eine oder andere Katze herauf auf die moderne, umzäunte Umfas- sungsmauer. Dort legt die Alte Roma, ächzt, schnauft, ein paar Brocken hin.

Oder die Alte Roma verläßt das CafS Martini und geht - ohne auf das Fußgängersignal zu achten, geht über die Straße, ob da rot ALT oder grün AVANTI steht - über die Via Labicana, den Monte Oppio hin- auf, den Ausläufer des Esquilin. Dort, hinter den Gittern, die die Zugänge zur Domus Aurea ver- schließen, liegen unzählige Katzen; darunter eine Familie mit sieben Jungen. Obwohl schon andere Kat- zenfreunde etwas hingelegt haben und die Katzen offenbar satt sind, greift die Alte Roma in ihre Ta- schen und wirft ein paar Brocken durch die Gitterstäbe hinein: für morgen zum Frühstück.

Im Colosseum selber wohnen noch viel mehr Katzen, die meisten an der östlichen Seite, wo sich das Straßenniveau höher hebt. Nicht so viele am Largo Argentina: aber das waren, erzählt man, die Lieblings- katzen der großen, unvergeßlichen Anna Magnani. Und die vielen ein- schichtigen Katzen: eine oben am Capitol, spazierte hinten (heute: hinten, ehedem: vorn, die Stadt Rom hat sich ja um hundertachtzig Grad gedreht; heute schaut das Capitol mit der Cordonata nach Norden, zur Piazza Venezia hin, zu Zeiten, wo die Alte Roma eine noch nicht so Alte Roma war, hat es nach Süden zum Forum hingeschaut) spaziert hinten amTarpejischen Felsen ent- lang und hat keine Angst hinunter- zustürzen. Eine sitzt in einer der finsteren Gassen hinter Sant An- drea della Valle auf einem Auto- dach, eine sitzt in einer winzigen Seitenstraße zwischen der Via del Tri tone und Sant Andrea della Frat- te auf dem Rest eines Aquaeducts, der unbeachtet in einem Hinterhof steht; eine sitzt in der Lungaretta neben der abgetretenen Marmor- schwelle einer Metzgerei.

Die Alte Roma glaubt vieles. Sie hat viele Heiligtümer. Sie kann alle Anrufungen lesen. Sie kann die Inschriften im Miträum unter San demente lesen, sie versteht die wasserzerfressenen, von den tau- send und abertausend Schlägen der darüber wegfahrenden Züge er- schütterten Reliefs der Basilica Sotteranea an der Porta Maggiore, sie betet im Pantheon und in der Peterskirche. (Sie weiß sogar, was die seltsamen Schriftzeichen be^ deuten, die auf dem Band zu sehen sind, die Sanct Peter und Sanct Paul auf Filaretes Porta Mediana umfassen: die Schriftzeichen sind arabisch.) Nur vor dem an sich sehr schönen Grabmal Innozenz' VIII. betet sie nicht. Das Grabmal, an einem Pfeiler mehr links, ist eines der drei großen Meisterwerke des Pallajolo in Rom: das Sixtus-Grab in der Sakristei, das überhaupt nicht genug zu loben ist, die Romu- lus- und Remus-Knaben, die er nachträglich an die Capitolinische Wölfin angefügt hat, und eben die- ses Monument für Innozenz VIII. Hier betet die Alte Roma nicht. Innozenz VIII., vorher Giovanni Battista Cybö, Papst von 1484 bis 1492. Er hat die Inquisition einge- führt und wollte die Katzen aus Rom vertreiben. Hier betet die Alte Roma nicht.

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