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Kirchgänger sind sechs Promille

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Sie gilt als die „established church", die anglikanische Staatskirche, das offizielle Glaubensbekenntnis des Engländers schlechthin. Die Verflechtung von Staat und Anglikanismus sind tragender Bestandteil der ungeschriebenen Verfassung. Die Krone ist das formelle Oberhaupt, Bischöfe sitzen im Oberhaus, kein Primas wird gegen den Rat des Premierministers ernannt, und die wichtigen Entscheidungen bis zu den ureigensten Fragen des Glaubens bedürfen der Approbation durch das Parlament. Als Gegenleistung war die Hochkirche stets Empfänger von Privilegien, Gütern und Geldmitteln aus der Staatskasse.

Kann der Anglikanismus tatsächlich wenn schon nicht für den britischen, so doch für den englischen Bürger reden? Ja, wenn es nach der lockeren Zuordnung zu

einer Religionsgemeinschaft geht, nach dem Taufschein oder der Heiratsurkunde der Individuen. Nein, wird der Anglikaner nach seinem Engagement in der Kirche bemessen. Kaum drei Prozent der Bevölkerung praktizieren jenen Glauben, nach dessen Riten sie getauft, in dessen Geiste sie allenfalls erzogen sind. Die zahlenmäßig wesentlich kleinere katholische Gemeinschaft registriert mehr aktive Gläubige und Kirchgänger als die Staatskirche; die Religionsgemeinschaften der

ethnischen Minoritäten verzeichnen einen stärkeren Zulauf.

„Toryismus im Gebet", also kirchlicher Arm der Konservativen Partei, ist die Staatskirche schon lange nicht mehr. Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung erhob sich nicht zuletzt aus den Reihen des höheren Klerus. Erzbischof Robert Runcie von Canterbury, der Primas, zeigte unmittelbar vor der letzten Parteikonferenz die eminenten individuellen Gefahren aus Arbeitslosigkeit, Armut und Rechtlosigkeit auf. Der umstrittene Bischof von Durham, David Jenkins, kritisierte im Verlauf des einjährigen Bergarbeiterstreiks die harte Einstellung von Frau Margaret Thatcher. Bischof Shep-pard von Liverpool, der Stadt mit

besonderen sozialen Problemen, steht grundsätzlich nicht auf Seiten der Tories. Ganz allgemein ist die Tendenz der Kirche unübersehbar, sich allmählich den Armen des Staates zu entziehen.

Die Konservativen sind nur allzu leicht geneigt, jeden Widerspruch von den Kanzeln und in politischen Äußerungen der Würdenträger als „marxistisch", „scheinheilig" und „naiv" abzu-tun. So geschehen im letzten Dezember, als die Kirche einen fundamentalen Bericht über die sozialen Probleme, „Glaube in der City" vorlegte, der zum Widerspruch herausforderte. Erzbischof Runcie hatte die Untersuchung einem Gremium aus Gläubigen wie konfessionell ungebundenen Soziologen, Fürsorgehelfern, Gewerkschaften und Politikern anvertraut. Letzten Endes identifiziert sich die Kirche mit den Aussagen unabhängiger Fachleute und greift die Regierungspolitik an, wenn ihr dies vom Standpunkt sozialer Gerechtigkeit aus geboten erscheint. Nicht nur das, die anglikanische Hierarchie wacht aus ihrer alten Selbstgefälligkeit auf und geht mit sich selbst ins Gericht, zeigt sich bereit, auch einen finanziellen Beitrag zur Linderung der Not zu leisten.

„Glaube in der City" beschreibt die verarmten Nachbarschaften und Wohnsiedlungen in den Innenstädten, wo die Bewohner den Preis für die Rechte der Begüterten zahlen - durch übergroße Arbeitslosigkeit, verfallene Häuser,

sinkende Einkommen und durch den Zusammenbruch gutnachbarlicher Beziehungen. Nur sechs von tausend Einwohnern dieser Elendsquartiere gehen in die Kirche. Der Anglikanismus hat die Verbindung mit den Armen verloren oder überhaupt nie besessen. Er muß in den Innenstädten den (vornehmlich dem irischen entstammenden) Katholiken das Vorrecht überlassen, Kirche der Armen genannt zu werden.

Die Geistlichen in den depri-vierten Gebieten, allesamt wie ihre Schutzbefohlenen und Pfarrkinder an oder unter der „bread-line" (Armutsgrenze) existierend, müssen eingestehen, daß die Kirche in diesen Grenzen irrelevant geworden ist. Der Begriff des Arbeiterpriesters ist in der anglikanischen Gemeinschaft unbekannt. Mit einem Mal erinnert man sich in der Hochkirche an den längst vergessenen Ausspruch von Erzbischof William Temple, Primas in den Tagen des Krieges und Vorstreiter der ökumenischen Bewegung: „Die Kirche muß christliche Prinzipien darlegen und herausstreichen, wo die existierende soziale Ordnung in Konflikt mit diesen Prinzipien liegt!"

Der „Report des Erzbischofs", wie „Glaube in der City" nach dem Auftraggeber, nicht nach den Autoren, genannt wird, sucht den unterbundenen Kontakt wieder anzuknüpfen und empfiehlt, mehr Priester in jene Armenviertel, die in letzter Zeit Schauplatz gewaltiger Aufstände geworden sind, zu entsenden. Mehr vollamtliche Laien und Sozialhelfer werden hinkünftig ihre Aufgabe dort erfüllen, wo auch der Anglikanismus keine starken Wurzeln geschlagen hat. Ein vielversprechender Anfang ist durch einen umstrittenen Bericht gemacht. Und an den Mitteln fehlt es der privilegierten Kirche sicherlich nicht.

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